Spillover
Boot gesetzt und Kinshasa eine Stippvisite abgestattet. Höchstwahrscheinlich haben Menschen das Virus dorthin getragen.« Allerdings, so räumt sie ein, wäre es auch denkbar, dass jemand einen lebenden, infizierten, gefangenen Schimpansen aus dem hinteren Winkel Kameruns mitbrachte – »aber das halte ich für höchst unwahrscheinlich«. Wahrscheinlicher ist, dass das Virus in Menschen wanderte.
Nach dieser Spekulation hielten Sexualkontakte in den Dörfern die Infektionskette in Gang, allerdings nur gerade so; zu einer merklichen Epidemie entwickelte sich die Krankheit nicht – und das über einen langen Zeitraum. Wenn jemand an einer Immunschwäche starb, blieb der Fall wahrscheinlich inmitten der vielen anderen Todesursachen weitgehend unbemerkt. Das Leben war schwer, das Leben war gefährlich, die Lebenserwartung war auch ohne die neue Krankheit kurz, und viele der ersten HIV -positiven Menschen starben wahrscheinlich aus anderen Gründen, bevor ihr Immunsystem versagte. Eine Epidemie gab es nicht. Aber die Infektionskette erhielt sich selbst. R 0 war stets größer als 1,0. Das Virus wanderte offenbar genauso, wie Menschen zu jener Zeit wanderten: vorwiegend auf den Flüssen. Es fand den Weg aus dem Südosten Kameruns über die Zuflüsse des Sangha, dann den Sangha selbst hinunter zum Kongo, dann mit dem Kongo nach Brazzaville und Léopoldville, die beiden Kolonialstädte auf den beiden Seiten des Stanley-Pools, wie er damals noch genannt wurde. »Nachdem es erst einmal in einer Stadtbevölkerung angekommen war, hatte es die Gelegenheit, sich auszubreiten«, sagt Hahn.
132 Gottlieb et al. (1981), S. 251
133 Pitchenik et al. (1983), S. 277
134 Der englische Wikipedia-Eintrag »Gaëtan Dugas« beispielsweise zitiert Auerbach et al. (1984) in diesem Sinne, obwohl die Autoren dieses Fachartikels keine derartige Aussage treffen.
135 Shilts (1987), S. 47
136 Shilts (1987), S. 165
137 Auerbach et al. (1984), S. 490
138 Shilts (1987), S. 23
139 Shilts (1987), S. 6
140 Montagnier (2000), S. 42
141 Levy et al. (1984), S. 840
142 Levy et al. (1984), S. 842
143 Essex und Kanki (Dezember 1988), S. 73
144 Essex und Kanki (Dezember 1988), S. 73
145 Essex und Kanki (Dezember 1988), S. 73
146 Mulder (1988), S. 396
147 Fukasawa et al. (1988), S. 457
148 Murphey-Corb et al. (1986), S. 437
149 Hirsch et al. (1989), S. 389
150 Willrich (2011), S. 181
151 Curtis (1992)
152 Zitiert in Curtis (1992), S. 21
153 Hooper (1999), S. 4
154 Worobey et al. (2008), S. 663
155 Weiss und Wrangham (1999), S. 385
156 Keele at al. (2006), S. 526
157 Hahn et al. (2000), S. 611
158 Sharp und Hahn (2010), S. 2492
Aber immer noch bewegte sich der Erreger langsam wie eine Lokomotive, die gerade erst den Bahnhof verlassen hat. Léopoldville hatte 1910 weniger als 10000 Einwohner, und Brazzaville war noch kleiner. Sitten und Moralvorstellungen unterschieden sich noch nicht wesentlich von denen in der Provinz. R 0 muss für das Virus weiterhin um 1,0 geschwankt haben. Die Zeit verging, und immer mehr Menschen zogen in die Städte, angelockt durch die Aussicht auf Lohnarbeit oder den Verkauf ihrer Waren. Sitten und Gelegenheiten wandelten sich. Es kamen nicht nur Männer, sondern auch Frauen – allerdings nicht so viele –, und unter denen, die kamen, betätigten sich nicht wenige im Sexgewerbe.
Brazzaville hatte 1914 ungefähr 6000 Einwohner und war »für die Mission ein schwieriges Feld«, wie ein schwedischer Missionar es formulierte. 159 »Hunderte von Frauen vom Oberlauf des Kongo sind Prostituierte von Beruf.« Zur männlichen Bevölkerung gehörten französische Beamte, Soldaten, Kaufleute und Arbeiter, die zahlenmäßig gegenüber den Frauen erheblich in der Überzahl waren – eine Folge der Kolonialpolitik: Verheiratete Männer, die zum Arbeiten hierherkamen, wurden davon abgehalten, ihre Familie mitzubringen. Das Ungleichgewicht der Geschlechter verstärkte die Nachfrage nach käuflichem Sex. Aber käufliche Gunst wurde in dieser Frühzeit im Allgemeinen auf ganz andere Weise gewährt, als es das Wort »Prostituierte« vielleicht vermuten lässt – es waren keine Ruckzuck-Ficks mit Fremden, die vor der Tür Schlange standen. Stattdessen boten alleinstehende Frauen, die auf Lingala ndumbas und auf Französisch femmes libres – »freie Frauen« im Gegensatz zu Ehefrauen oder Töchtern – hießen, ihren Kunden eine ganze Reihe von Dienstleistungen an, von Gesprächen über Sex bis zum Waschen und Kochen. Eine
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