Spillover
örtlichen Kinderklinik an einer Studie über Masern teilzunehmen. Als man ihr Blut später noch einmal testete, stellte sich heraus, dass 7,8 Prozent der Frauen HIV -positiv gewesen waren. Das war für ein erst kürzlich eingeschlepptes Virus eine verblüffend hohe Zahl; sie veranlasste Pépin zu der Vermutung, in Haiti müsse in den ersten Jahren »ein sehr wirksamer Vermehrungsmechanismus« 166 am Werk gewesen sein – wirksamer als Sex. Und er fand auch einen Kandidaten: den Handel mit Blutplasma.
Das Plasma, der flüssige Teil des Blutes ohne die Blutzellen, ist ein wertvoller Rohstoff, der Antikörper, Albumin und Gerinnungsfaktoren enthält. Die Nachfrage nach Blutplasma stieg ungefähr um 1970 steil an, und um sie zu befriedigen, entwickelte man ein Verfahren, das als Plasmapherese bezeichnet wird. Dazu nimmt man Spenderblut, trennt die Zellen durch Filtern oder Zentrifugieren vom Plasma ab, gibt die Zellen dem Spender zurück und behält das Plasma als Produkt. Dieser Prozess hat den Vorteil, dass die Spender (eigentlich besser Verkäufer , denn sie erhalten Geld für die Unannehmlichkeiten, Geld, das sie meist dringend brauchen) nicht nur einige Male im Jahr, sondern häufiger angezapft werden können. Plasma zum Wohle anderer oder wegen der Aufwandsentschädigung zu spenden, führt nicht zu Blutarmut. Man kann die Spende schon in der nächsten Woche wiederholen. Das Verfahren hat aber auch einen gewaltigen Nachteil, den man in jener Frühzeit aber nicht kannte: Über die Plasmaphereseapparatur, die im Laufe weniger Tage das Blut vieler Spender verarbeitet, kann man sich mit einem Virus infizieren, das mit dem Blut übertragen wird.
Mitte der 1980er Jahre widerfuhr dies in Mexiko Hunderten von bezahlten Plasmaspendern. Das gleiche Schicksal ereilte in China eine Viertelmillion unglücklicher Spender. Jacques Pépin geht davon aus, dass es auch in Haiti geschah.
Er fand Berichte über ein Plasmapheresezentrum in Port-au-Prince; es handelte sich um ein Privatunternehmen namens Hemo Caribbean, das in den Jahren 1971 und 1972 profitabel arbeitete. Der Eigentümer war Joseph B. Gorinstein, ein in Miami ansässiger Investor, der gute Beziehungen zum haitianischen Innenminister hatte. Die Spender erhielten drei Dollar pro Liter. Bevor sie Plasma verkaufen durften, wurde ihre Organfunktion überprüft, aber natürlich untersuchte sie niemand auf HIV – der Erreger existierte zu jener Zeit weder in Form einer Abkürzung noch als berüchtigte weltweite Geißel, sondern nur als kleines Virus, das in aller Stille im Blut lebte. Einem Artikel zufolge, der am 28. Januar 1972 in der New York Times erschien, exportierte Hemo Caribbean damals jeden Monat 5000 bis 6000 Liter gefrorenes Blutplasma in die Vereinigten Staaten. Die Abnehmer waren amerikanische Unternehmen, die das Produkt zur Verwendung für Transfusionen, Tetanusimpfungen und andere medizinische Anwendungen vermarkteten. Mr. Gorinstein stand für ein Gespräch nicht zur Verfügung.
Mittlerweile – man schrieb das Jahr 1971 – war »Papa Doc« gestorben; sein Nachfolger war sein Sohn Jean-Claude (»Baby Doc«) Duvalier. Diesem war die durch den Zeitungsartikel verursachte öffentliche Aufmerksamkeit lästig, und er ordnete an, Gorinsteins Plasmapheresezentrum zu schließen. Die katholische Kirche von Haiti verurteilte den Bluthandel als Ausbeutung. Davon abgesehen, wurde die Geschichte von Hemo Caribbean zu jener Zeit kaum zur Kenntnis genommen. Noch war niemandem klar, welch verheerende Folgen die Verunreinigung von Blutprodukten haben konnte. Auch der Morbidity and Mortality Weekly Report der CDC erwähnte sie ein Jahrzehnt später nicht, als er bekannt gab, Haitianer seien offenbar durch das rätselhafte neue Immunschwächesyndrom besonders gefährdet. Randy Shilts erwähnt sie in seinem Buch And the Band Played On ebenfalls nicht. Die einzige Anspielung auf haitianisches Blutplasma, an die ich mich aus den Jahren vor dem Buch von Jacques Pépin erinnern kann, fiel während meines Gesprächs mit Michael Worobey in Tucson.
Kurz bevor Worobey seine Erkenntnisse über DRC 60 und ZR 59 veröffentlichte, war er als Koautor an einem anderen bemerkenswerten Artikel beteiligt, in dem ein Zeitpunkt für das Auftauchen von HIV -1 in Amerika genannt wurde. Der erste Autor war Tom Gilbert, ein Postdoc aus Worobeys Institut; als leitender Wissenschaftler wurde Worobey selbst genannt. In dieser Arbeit, die sich auf die Analyse von Virusfragmenten aus archivierten
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