Spillover
Umständen fälschlich für Gonokokken gehalten, die Erreger der Gonorrhö. Wenn bei einer Frau Tripper diagnostiziert wurde, erhielt sie Spritzen mit Typhusimpfstoff oder ein Medikament namens Gono-yatren, oder aber Milch (was selbst Jacques Pépin rätselhaft fand). In den 1930er und 1940er Jahren verabreichte das Dispensaire Antivénérien jedes Jahr mehr als 47000 Injektionen, die meisten davon intravenös. Unmittelbar ins Blut. Als sich die Zuwanderung in die Städte nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte, stiegen die Zahlen. Anfang der 1950er Jahre wurden die fragwürdigen Arzneien und metallischen Gifte von Penicillin und Streptomycin abgelöst, die über längere Zeit wirkten und weniger häufig gespritzt werden mussten. Ihren Höhepunkt erreichte die Kampagne 1953 mit ungefähr 146800 Injektionen, das sind rund 400 pro Tag. Vermutlich die meisten davon wurden an femmes libres verteilt, die mehrere männliche Kunden hatten – Sexarbeiterinnen, Damen des Gewerbes, wie man sie auch nennen mag. Sie kamen und gingen. Die Spritzen wurden ausgewaschen und wiederverwendet. Und das in einer Stadt, in der HIV -1 angekommen war.
Sechs Jahre später wurde die Blutprobe entnommen, in der man die heute als ZR 59 bezeichnete HIV -1-Sequenz fand. Ein Jahr danach folgte DRC 60. Das Virus hatte sich verbreitet und auseinanderentwickelt. Es war im Umlauf. Ob einer dieser beiden Patienten jemals im Dispensaire Antivénérien gewesen war und eine Spritze bekommen hatte, weiß niemand. Aber wenn nicht, dann kannten sie wohl jemanden, auf den es zutraf.
101
Blutgeld
Von hier an laufen die Handlungsstränge der Geschichte buchstäblich in alle Richtungen auseinander. Als ob in Léopoldville eine infektiöse Supernova explodiert wäre. Ich werde nicht versuchen, diese auseinanderstrebenden Verläufe nachzuzeichnen – das wären Themen für zehn andere Bücher –, ich möchte nur kurz die Gesetzmäßigkeit skizzieren und mich dann auf einen besonders berüchtigten Handlungsstrang konzentrieren.
Während der jahrzehntelangen, unauffälligen Übertragung in Léopoldville mutierte das Virus immer weiter (und vermutlich rekombinierte es auch, so dass sich größere Genomabschnitte verschiedener Virionen miteinander vermischten). Die dabei auftretenden Kopierfehler trieben die Auseinanderentwicklung voran. Die meisten Mutationen sind tödlich: Sie führen den mutierten Organismus in eine Sackgasse. Da sich aber so viele Milliarden Virionen verdoppelten, entstand durch Zufall auch eine kleine, aber reichhaltige Auswahl an lebensfähigen neuen Varianten. Die Therapiefeldzüge mit Injektionen am Dispensaire Antivénérien und anderen Einrichtungen dürften diesen Effekt verstärkt haben: Durch sie wurde das Virus schnell an viele Menschen weitergegeben, und seine Gesamtpopulation stieg. Je mehr Virionen, desto mehr Mutationen, je mehr Mutationen, desto mehr Vielfalt.
Die Abstammungslinie der HIV -1-Gruppe M spaltete sich in neun wichtige Untergruppen auf, die heute als Subtypen bezeichnet und mit Buchstaben benannt werden: A, B, C, D, F, G, H, J und K . (Wenn möglich, sollte man diese nicht mit den acht Gruppen von HIV -2 verwechseln, die Bezeichnungen von A bis H tragen. Und warum fehlen E und I? Das braucht uns hier nicht zu interessieren. Solche Nomenklaturgebäude werden nicht mit architektonischer Weitsicht aufgebaut, sondern Stück für Stück wie ein Slum aus Pappe und Wellblech.) Als die Bevölkerung von Léopoldville weiterwuchs und der Reiseverkehr zunahm, verließen Viren der neuen Untertypen die Stadt, verbreiteten sich sternförmig über Afrika und über die ganze Welt. Manche von ihnen flogen mit dem Flugzeug, andere bewegten sich mit einfacheren Transportmitteln fort: mit Bussen, Booten, Zügen, Fahrrädern oder als blinde Passagiere auf einem Fernlaster. Oder auch zu Fuß. Der Subtyp A gelangte vermutlich über die Stadt Kisangani, die auf halbem Weg zwischen Léopoldville und Nairobi liegt, nach Ostafrika. Der Subtyp C verbreitete sich ins südliche Afrika und nahm dabei wahrscheinlich den Weg über Lubumbashi ganz im Südosten des Kongos. Er sickerte nach Sambia ein, wurde in den Bergbaustädten voller Arbeiter und Prostituierten schnell weitergegeben, und schließlich erlebte der Subtyp C überall in Südafrika, Mosambik, Lesotho und Swasiland eine katastrophale Vermehrung. Er gelangte nach Indien, das mit Südafrika durch Handelswege verbunden ist, die so alt sind wie das britische Kolonialreich, und kam auch
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