Spillover
beispielsweise in einige Hundert – gelangt war, befand es sich nicht mehr in einer Sackgasse; es lief sich nicht tot, und den Rest erledigte die sexuelle Übertragung. Manche Fachleute, darunter Michael Worobey und Beatrice Hahn, haben ihre Zweifel daran, ob Spritzen notwendig waren, damit HIV sich bei Menschen durchsetzen konnte – das heißt, ob sie im Frühstadium eine Voraussetzung für die Übertragung von Mensch zu Mensch waren. Aber auch sie stimmen darin überein, dass die häufige Behandlung mit Injektionen später in Afrika zur Ausbreitung des Virus beigetragen haben könnte, nachdem es erst einmal Fuß gefasst hatte.
Die Theorie mit den Spritzen hatte Jacques Pépin sich nicht ausgedacht. Sie geht mehr als zehn Jahre weiter und auf die Arbeit eines anderen Wissenschaftlerteams zurück, zu dem Preston Marx von der Rockefeller University gehörte. Er formulierte sie im Jahr 2000 auf derselben Tagung der Royal Society über die Ursprünge von AIDS , auf der auch Edward Hooper seine Theorie mit der Polio-Schluckimpfung vertreten hatte. Marx’ Gruppe war sogar der Ansicht, die HIV -Übertragung von Mensch zu Mensch, die durch solche Injektionen stattfand, könne die Evolution des Virus und seine Anpassung an den Menschen als Wirt auf ganz ähnliche Weise beschleunigt haben, wie die Passage des Malariaparasiten durch 160 Syphilispatienten möglicherweise die Virulenz von Plasmodium knowlesi gesteigert hatte. Jacques Pépin griff die Überlegungen von Preston Marx auf, legte allerdings weniger Gewicht auf die evolutionären Auswirkungen einer solchen Übertragungsreihe. Pépin ging es vor allem einfach darum, dass unsaubere Nadeln, die so häufig wiederverwendet wurden, die Virusverbreitung unter den Menschen in Zentralafrika gesteigert haben müssen. Im Gegensatz zu der These vom Polio-Impfstoff wurde die Nadeltheorie durch weitere Forschungsarbeiten nicht widerlegt, und Pépins neue Befunde an Archivmaterial lassen sogar darauf schließen, dass sie höchst plausibel ist, auch wenn man sie letztlich nicht beweisen kann.
Die Spritzen gegen die Trypanosomiasis wurden größtenteils in ländlichen Gebieten verabreicht. Stadtbewohner kommen seltener mit der Schlafkrankheit in Kontakt, was unter anderem daran liegt, dass die Tsetsefliegen im Dschungel der Großstadt nicht so gut gedeihen wie im Grünen. Deshalb musste man die Frage beantworten, ob die Injektionswut auch in Léopoldville grassiert hatte, wo HIV seine entscheidende Prüfung bestehen musste. Darauf gibt Pépin eine unerwartete, interessante und überzeugende Antwort. Trypanosomiasis war hier nicht das Ziel. Er entdeckte eine andere, aber ebenso aggressive Spritzenkampagne: die Bekämpfung von Syphilis und Tripper in der Stadtbevölkerung.
Das kongolesische Rote Kreuz richtete 1929 eine Klinik ein, die als Dispensaire Antivénérien bekannt wurde. Sie stand Männern und Frauen zur Behandlung von Leiden offen, die wir heute als Geschlechtskrankheiten bezeichnen. Die Einrichtung lag in einem Stadtviertel auf der Ostseite von Léopoldville nicht weit vom Fluss und wurde privat betrieben, erbrachte aber eine öffentliche Dienstleistung. Männliche, Arbeit suchende Zuwanderer mussten sich aufgrund einer städtischen Vorschrift im Dispensaire vorstellen und sich untersuchen lassen. Jeder, der Symptome hatte, konnte die Einrichtung freiwillig aufsuchen, die Behandlung war kostenlos. Den größten Teil der Besucher stellten aber nach Pépins Angaben »Tausende von freien Frauen, die keine Symptome hatten und sich untersuchen lassen wollten, weil das Gesetz es – theoretisch jeden Monat – verlangte«. 165 Die Kolonialverwaltung tolerierte die Prostitution als unvermeidliche Tatsache, wollte aber das Gewerbe offenbar hygienischer gestalten – deshalb schrieb sie den femmes libres vor, ihren Gesundheitszustand überprüfen zu lassen.
Wenn bei jemandem eine Syphilis oder Gonorrhö diagnostiziert wurde, erhielt die betreffende Person eine Behandlung. Aber die Diagnoseverfahren waren ungenau. Wenn eine freie Frau oder ein männlicher Zuwanderer einmal mit der Frambösie in Kontakt gekommen war (einer Krankheit, deren Erreger stark dem Syphilisbakterium ähnelt, die aber nicht sexuell übertragen wird), ergab die Blutuntersuchung ein positives Ergebnis, die Diagnose Syphilis wurde gestellt, und die betroffene Person musste sich einer langwierigen Therapie mit arsen- oder wismuthaltigen Medikamenten unterziehen. Harmlose Scheidenbakterien wurden unter
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