Spillover
so aussah, als würden sie von zerstörten Bäumen auf gesunde wandern, um immer mehr Nahrung zu finden, legten wir Barrieren aus einer klebrigen Schmiere um die Baumstämme. Das war sinnlos (wie ich später erfuhr, verbringt eine »Zeltraupe« ihr Larvenstadium in der Regel auf dem Baum, auf dem sie aus dem Ei geschlüpft ist), aber es spiegelt unsere Verzweiflung wider. Ich sah zu, wie meine Nachbarin Susan voller Hoffnung solche Abwehrmaßnahmen für zwei riesige Ulmen vor ihrem Haus ergriff: Jeder Baum wurde auf Hüfthöhe mit einem klebrigen Gürtel versehen, was auch mir eine vernünftige Idee zu sein schien. Aber nicht eine einzige Raupe blieb auf dem Zeug hängen.
Sie kamen immer noch. Sie taten, was sie wollten. Es waren einfach zu viele, und der Befall nahm seinen unausweichlichen Lauf. Wir traten auf sie, wenn sie die Bürgersteige überquerten. Wir fuhren sie auf den Straßen in großen Mengen zu Brei. Sie fraßen, sie wuchsen, sie häuteten sich und wuchsen weiter. In der ganzen Stadt marschierten sie an den Ästen auf und ab und fraßen unsere Bäume, als wäre es Sellerie.
Irgendwann hörten sie auf zu fressen. Sie hatten ihre Endgröße als jugendliche Raupen erreicht und waren jetzt bereit für die »Pubertät«. Sie hüllten sich in Blätterkokons, nahmen sich eine Auszeit für die Metamorphose und kamen wenige Wochen später als kleine braune Schmetterlinge wieder ans Licht. Das Knistern hörte auf, in den Baumkronen oder was von ihnen noch übrig war, wurde es still. Die Raupen, ja die Raupen waren weg. Aber die riesige Population von Schadinsekten lauerte immer noch über unseren Köpfen. Fast unsichtbar lagen sie wie ein großer, düsterer Schatten über der Zukunft.
In der Ökologie gibt es für solche Ereignisse einen Namen: »Massenvermehrung«. Eine Massenvermehrung kann »ausbrechen«, wie eine Krankheit aufgrund der starken Vermehrung eines Erregers ausbricht. Massenvermehrungen kommen bei einigen Tieren vor, zum Beispiel bei Lemmingen, bei anderen aber nicht, etwa bei Fischottern. Ebenso gibt es sie bei manchen Arten von Heuschrecken, manchen Mäusen und manchen Seesternen, während andere Heuschrecken-, Maus- und Seesternarten sie nicht kennen. Eine Massenvermehrung von Spechten ist unwahrscheinlich. Eine Massenvermehrung von Vielfraßen – unwahrscheinlich. In der Insektenordnung der Lepidoptera (Schmetterlinge) gibt es einige Spezies, bei denen es zu plötzlichen Massenvermehrungen kommen kann; dazu zählen nicht nur mehrere Arten von Ringelspinnern, sondern auch Schwammspinner, Trägspinner, Wickler und andere. Aber das sind selbst unter den Lepidoptera nur Ausnahmeerscheinungen. Von allen waldlebenden Schmetterlingsarten bilden ungefähr 98 Prozent über längere Zeit hinweg stabile Populationen mit geringer Dichte; plötzliche Massenvermehrungen gibt es bei nicht mehr als zwei Prozent. Welche Eigenschaften versetzen solche Spezies – seien es nun Insekten, Säugetiere oder Mikroorganismen – in die Lage, sich massenhaft zu vermehren? Auf diese komplizierte Frage haben die Fachleute bis heute keine abschließende Antwort.
Vor einigen Jahren schrieb der Insektenforscher Alan A. Berryman zu dem Thema einen Artikel mit dem Titel »The Theory and Classification of Outbreaks« (»Theorie und Einteilung von plötzlichen Massenvermehrungen«). Er beginnt mit Grundsätzlichem: »Aus ökologischer Sicht kann man eine Massenvermehrung als extreme Häufigkeitszunahme einer bestimmten Spezies definieren, die sich in einem relativ kurzen Zeitraum ereignet.« 167 Dann stellt er in dem gleichen nüchternen Ton fest: »Unter diesem Gesichtspunkt ist die größte Massenvermehrung auf dem Planeten Erde die der Spezies Homo sapiens .« Damit meinte Berryman natürlich die Geschwindigkeit und die Größenordnung des menschlichen Bevölkerungswachstums insbesondere in den letzten Jahrhunderten. Dass er mit seiner Aussage provozierte, wusste er.
Aber die Zahlen geben ihm recht. Als Berryman 1987 seinen Artikel verfasste, bestand die Weltbevölkerung aus fünf Milliarden Menschen. Seit der Erfindung der Landwirtschaft hatte sie sich ungefähr um den Faktor 333 vermehrt. Seit der Zeit der Pestepidemien war sie um den Faktor 14 gewachsen, seit der Geburt von Charles Darwin um den Faktor 5, und allein während der Lebenszeit von Alan Berryman hatte sie sich verdoppelt. In der Grafik zu seinem Artikel sieht diese Wachstumskurve aus wie eine steile Felswand. Man kann es sich auch auf andere Weise
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