Spillover
sind das Rohmaterial, auf das die natürliche Selektion einwirkt. Die meisten Mutationen sind schädlich: Sie führen zu folgenschweren Fehlfunktionen und sorgen dafür, dass die mutierten Formen in der Evolution aussterben. Hin und wieder ist eine Mutation aber auch nützlich und dient der Anpassung. Und je mehr Mutationen sich abspielen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine nützliche darunter ist. (Bei einer größeren Mutationshäufigkeit entstehen natürlich auch mehr schädliche Mutationen, die für das Virus tödlich sind; deshalb kann eine bestimmte Mutationsrate auf die Dauer nicht überschritten werden.) Aus solchen Gründen machen RNA -Viren vielleicht eine schnellere Evolution durch als alle anderen Organismengruppen auf der Erde. Deshalb sind sie so veränderlich, so unberechenbar und so lästig.
Auch wenn Peter Medawar es behauptete, ist nicht jedes Virus »eine schlechte Nachricht, verpackt in Protein« – oder zumindest ist es nicht für jeden infizierten Wirt eine schlechte Nachricht. Manchmal ist die Nachricht nur neutral, und manchmal ist sie sogar gut; bestimmte Viren leisten ihren Wirten gute Dienste. »Infektion« muss nicht immer mit nennenswerten Schäden verbunden sein; das Wort bedeutet nur, dass ein Mikroorganismus Fuß gefasst hat. Einem Virus nützt es nicht zwangsläufig, wenn es seinen Wirt krank macht. Sein eigenes Interesse richtet sich nur auf Vermehrung und Übertragung. Das Virus dringt in die Zellen ein und unterwandert ihren physiologischen Apparat, um Kopien seiner selbst herzustellen. Häufig zerstört es die Zelle, wenn es sie verlässt. Unter Umständen sind aber nicht so viele Zellen betroffen, dass für den Organismus ein echter Schaden entsteht. Manche Viren bewohnen ihren Wirt in aller Stille, sind gutartig, vermehren sich in bescheidenem Umfang und werden von einem Individuum zum nächsten übertragen, ohne Symptome hervorzurufen. Die Beziehung zwischen einem Virus und seinem Reservoirwirt zum Beispiel beinhaltet in der Regel einen solchen Waffenstillstand; er wird manchmal erst erreicht, nachdem beide lange verbunden waren und sich in der Evolution über viele Generationen hinweg aufeinander eingestellt haben – das Virus wird weniger virulent, der Wirt verträgt es besser. Teilweise ist dies sogar die Definition des Reservoirwirts: keine Symptome. Aber nicht jede Beziehung zwischen Virus und Wirt entwickelt sich zu einem so freundschaftlichen Verhältnis. Es ist eine Sonderform des ökologischen Gleichgewichts.
Und wie alle Formen des ökologischen Gleichgewichts ist es vorübergehend, vorläufig, provisorisch. Wenn es zum Übersprung kommt und ein Virus in eine neue Wirtsspezies gelangt, gilt der Waffenstillstand nicht mehr. Toleranz ist nicht übertragbar. Das Gleichgewicht ist gestört. Jetzt entwickelt sich eine ganz neue Beziehung. In einem Wirt, der ihm nicht vertraut ist, kann sich das Virus als harmloser Mitreisender, als mäßig starke Belästigung oder als Geißel erweisen. Es kommt darauf an.
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Vom Affen gebissen
Das Virus, das informell als Herpes B (oder genauer als Cercopithecines Herpesvirus 1, ein Hinweis auf seine natürlichen Reservoirwirte, die Makaken oder Cercopithecidae) bezeichnet wird, erregte 1932 erstmals die Aufmerksamkeit der medizinischen Welt. Damals hatte es an der Universität New York einen Laborunfall gegeben: Ein junger Wissenschaftler namens William Brebner arbeitete auf einen Impfstoff gegen Kinderlähmung hin. Für diese Art der Forschung sind Affen wichtige Versuchstiere, und das Tier der Wahl war in diesem Fall der Rhesusaffe ( Macaca mulatta ), der zur Familie der Cercopithecidae gehört. Das Poliovirus ließ sich noch nicht im Labor züchten (dies wurde erst später möglich, als man lebende Zellen als Viruswirte in einem Kulturmedium halten konnte), deshalb dienten Rhesusaffen in der Regel sowohl als »Brutschränke« für das Virus als auch als Versuchsobjekte. Die Kinderlähmung oder Poliomyelitis ist keine Zoonose: Andere Tiere als der Mensch sind von ihr in der Natur nicht betroffen; mit einer Spritze kann man aber dafür sorgen, dass das Virus sich auch in Affen vermehrt. Der Wissenschaftler nahm dann das Poliovirus von einem künstlich infizierten Tier und injizierte es einem anderen in Gehirn oder Rückenmark; damit wurde die Infektionskette fortgesetzt, und gleichzeitig konnte er beobachten, welche Wirkung das Virus auf die Affen hatte. Eines Tages wurde William Brebner von einem seiner Affen
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