Spillover
Beijerinck unabhängig von Iwanoski zu dem gleichen Befund und ging dann noch einen Schritt weiter: Er verdünnte den filtrierten Saft einer kranken Pflanze und infizierte mit dieser Lösung eine andere Pflanze. Wie sich dabei herausstellte, behält das infektiöse Material – worum es sich auch handeln mochte – selbst nach dem Verdünnen noch seine ursprüngliche Stärke. Demnach vermehrte es sich im lebenden Gewebe der neu infizierten Pflanzen, und das wiederum hieß, dass es kein Toxin (eine giftige Ausscheidung, wie sie von manchen Bakterien abgegeben wird) sein konnte. Ein Toxin, das man in einem größeren Volumen verdünnt, hat einen geringeren Effekt – es gewinnt seine Stärke nicht von selbst wieder. Genau das tat aber dieses Material. In einem Behälter, der nur den filtrierten Saft enthielt, wuchs es aber nicht. Dazu war noch etwas nötig: die Pflanze.
Insgesamt konnten Martinus Beijerinck, Dmitri Iwanowski und einige Kollegen mit ihren Arbeiten also zeigen, dass die Tabakmosaikkrankheit von etwas verursacht wird, das kleiner als ein Bakterium und im Mikroskop unsichtbar ist, sich aber in lebenden Zellen – und nur dort – vermehren kann. Das waren die grundlegenden Eigenschaften eines Virus, aber noch hatte niemand einen solchen Erreger gesehen. Beijerinck vermutete, das Etwas, das die Tabakmosaikkrankheit hervorrief, sei flüssig, und bezeichnete es als contagium vivum fluidum – ansteckende lebende Flüssigkeit. Durch spätere Arbeiten, zu denen auch die Erfindung des Elektronenmikroskops in den 1930er Jahren gehörte, wurde er in diesem Punkt widerlegt. Ein Virus ist nicht flüssig, sondern fest: Es ist ein winzig kleines Teilchen.
Bei alledem ging es um Pflanzen. Bei Tieren wurde als erstes Virus der Erreger der Maul- und Klauenseuche entdeckt, die für die Landwirtschaft ebenfalls ein großes Problem darstellte. Rinder und Schweine gaben die Krankheit untereinander in null Komma nichts weiter und starben daran oder mussten getötet werden. Friedrich Loeffler und Paul Frosch bedienten sich an der Universität Greifswald der gleichen Methoden wie Beijerinck – Filtrieren und Verdünnen – und konnten damit 1898 nachweisen, dass der Erreger der Maul- und Klauenseuche ebenfalls ein filtrierbares Etwas ist, das sich ausschließlich in lebenden Zellen vermehrt. Loeffler und Frosch erklärten sogar, es handele sich möglicherweise nur um ein Mitglied einer ganzen Klasse bisher nicht entdeckter Krankheitserreger, darunter vielleicht auch einige, die Menschen infizieren und Krankheiten wie die Pocken verursachen. Aber die erste Virusinfektion, die man bei Menschen identifizierte, waren nicht die Pocken, sondern 1901 das Gelbfieber. Ungefähr zu der Zeit, als William Gorgas das Gelbfieberproblem in Kuba pragmatisch durch Ausrottung aller Stechmücken löste, konnten Walter Reed und seine kleine Gruppe von Mikrobiologen nachweisen, dass der Erreger tatsächlich von Stechmücken übertragen wird. Sehen konnten aber auch sie ihn nicht.
Von jetzt an verwendeten Wissenschaftler zunehmend die Bezeichnung »filtrierbares Virus« – eine schwerfällige, aber präzisere Form des alten Begriffs vom giftigen Schleim. Hans Zinsser erklärte beispielsweise in seinem 1934 erschienenen Buch Rats, Lice and History (dt. Der Roman des Fleckfiebers: Ratten, Läuse, Menschen und die Weltgeschichte ), einer klassischen historischen Darstellung der medizinischen Forschungen und Entdeckungen, er sei »ermutigt durch die Untersuchung der sogenannten ›filtrierbaren Viren‹«. 98 Viele Epidemien, so schrieb Zinsser weiter, werden »durch dieses geheimnisvolle ›Etwas‹ verursacht, zum Beispiel Pocken, Schafblattern, Masern, Mumps, Kinderlähmung, Enzephalitis, Gelbfieber, Denguefieber, Tollwut und Influenza, ganz von einer großen Zahl der wichtigsten Krankheiten im Tierreich zu schweigen«. Zinsser erkannte auch, dass manche dieser Tierkrankheiten sich möglicherweise mit der ersten Kategorie, den Epidemien unter Menschen, überschneiden. Deshalb fügte er eine entscheidende Aussage an: »Hier wie bei den bakteriellen Krankheiten findet ein lebhafter Austausch der Parasiten zwischen dem Menschen und der Tierwelt statt.« 99 Zinsser war nicht nur ein hervorragend ausgebildeter Mikrobiologe, sondern auch ein Denker mit weitem Horizont. Schon vor acht Jahrzehnten spürte er, dass die gerade erst entdeckten Viren zu den heimtückischsten zoonotischen Erregern gehören.
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Minimalistische Effizienz
Die Schwierigkeit,
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