Spillover
Viren im Labor zu züchten, machte sie für die frühen Forscher in doppelter Hinsicht – praktisch und gedanklich – schwer fassbar; gleichzeitig war es aber auch ein Hinweis auf ihre Natur. Ein Virus wächst nicht in einem Kulturmedium aus chemischen Nährstoffen, es kann sich nur in einer lebenden Zelle vermehren. Oder in der Fachsprache: Es ist ein »obligater intrazellulärer Parasit«. Es ist winzig, auch sein Genom hat nur eine geringe Größe, und stark vereinfacht – es enthält nur das Notwendigste für ein opportunistisches, abhängiges Dasein. Einen eigenen Vermehrungsapparat besitzt es nicht. Es schnorrt. Es stiehlt.
Wie klein ist klein? Ein durchschnittliches Virus hat ungefähr ein Zehntel der Größe eines durchschnittlichen Bakteriums. Oder in Zahlen: Runde Viren haben einen Durchmesser zwischen ungefähr 15 Nanometern (das heißt 15 Milliardstel Metern) und 300 Nanometern. Aber nicht alle Viren sind rund. Manche sehen aus wie ein Zylinder, andere sind fadenförmig oder erinnern an futuristische Gebäude oder Mondlandemodule. Wie sie auch geformt sind, ihr Volumen ist winzig. Entsprechend begrenzt ist die Größe der Genome, die in einem derart kleinen Behälter verpackt sein können: Das Spektrum reicht von 2000 bis etwa 1,2 Millionen Nucleotide. Das Genom einer Maus dagegen besteht aus ungefähr drei Milliarden Nucleotiden. Drei Nucleotidbasen sind notwendig, um eine Aminosäure festzulegen, und durchschnittlich 250 Aminosäuren bilden ein Protein (manche Proteine sind allerdings auch viel größer). Die Herstellung von Proteinen ist die Aufgabe der Gene; alles andere, was sich in einer Zelle oder in einem Virus abspielt, ist das Ergebnis sekundärer Reaktionen. Ein Genom aus nur 2000 Codebuchstaben oder auch aus 13000 (wie beim Influenzavirus) oder 30000 ( SARS -Virus) stellt nur eine sehr skizzenhafte Bauanleitung dar. Aber selbst mit einem derart kleinen Genom, das nur acht oder zehn Proteine codiert, kann ein Virus sehr trickreich und effektiv sein.
Viren stehen vor vier grundlegenden Herausforderungen: Sie müssen von einem Wirt zum anderen gelangen, in eine Zelle dieses Wirtes eindringen, den Vermehrungsapparat und die Ressourcen der Zelle zur Herstellung von Viruskopien umfunktionieren und schließlich wieder herauskommen – aus der Zelle, aus dem Wirt und dann ab zum nächsten. Struktur und genetische Fähigkeiten eines Virus sind punktgenau auf genau diese Aufgaben zugeschnitten.
Der angesehene britische Biologe Sir Peter Medawar, der im gleichen Jahr wie Macfarlane Burnet den Nobelpreis erhielt, bezeichnete ein Virus einmal als »schlechte Nachrichten, in Protein verpackt«. 100 Mit »schlechten Nachrichten« meinte er das genetische Material, das die Zellen des Wirtsorganismus als Zufluchts- und Vermehrungsort nutzt und dabei oft (aber nicht immer) Schaden anrichtet. Die Proteinumhüllung wird als Capsid bezeichnet. Das Capsid hat zwei Aufgaben: Es schützt die Innereien des Virus, wenn es nötig ist, und hilft dem Virus, sich den Weg in die Zellen zu bahnen. Ein einzelnes Virus, ein Teilchen, das sich unversehrt außerhalb einer Zelle befindet, wird Virion genannt. Das Capsid bestimmt auch die äußere Gestalt eines Virus. Die Virionen des Ebola- und des Marburg-virus zum Beispiel sind lange Fäden; deshalb bezeichnet man die Gruppe, zu der sie gehören, als Filoviren. Andere Virusteilchen sind kugel- oder eiförmig, korkenzieherförmig oder ikosaedrisch (Körper mit 20 Seiten wie ein von Buckminster Fuller gestalteter Fußball). HIV -1-Teilchen sind Kugeln. Das Tollwutvirus ist geformt wie ein Projektil.
Viele Viren sind noch von einer weiteren Schicht umgeben, der Virushülle, die nicht nur aus Protein besteht, sondern auch Lipidmoleküle aus der Wirtszelle enthält. In manchen Fällen nimmt das Virus diese Moleküle aus der Wand der Zellen mit, wenn es sie verlässt. Auf der Außenseite der Hülle ist das Virion unter Umständen mit zahlreichen vorspringenden Molekülen besetzt, die an die Zündhörner einer altertümlichen Seemine erinnern. Diese »Spikes« erfüllen eine entscheidende Aufgabe. Sie sind für jeden Virustyp charakteristisch und tragen eine schlüsselähnliche Struktur, die zu molekularen Schlössern auf der Außenseite einer Zielzelle passt; damit kann das Virus sich an die Zelle anheften wie ein Raumschiff, das an ein anderes andockt. Die Spezifität der Spikes schränkt nicht nur das Spektrum der Wirte ein, die ein bestimmtes Virus zu infizieren vermag,
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