Spillover
sich bisher nicht voraussagen. Rund 30 Millionen Tote, 34 Millionen noch lebende infizierte Menschen, und ein Ende ist nicht in Sicht. Auch die Kinderlähmung war eine große Epidemie, zumindest in Nordamerika; in ihrer schlimmsten Zeit befiel sie Hunderttausende von Kindern, von denen viele gelähmt blieben oder starben. Sie erhielt viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und löste tief greifende Veränderungen in der medizinischen Forschung und der Art ihrer Finanzierung aus. Die größte Epidemie des 20. Jahrhunderts war die Grippe von 1918/19. Davor gab es auf dem nordamerikanischen Kontinent unter den Ureinwohnern eine große Pockenepidemie; die Pocken wurden um 1520 von Hernando Cortés und seinen Truppen eingeschleppt. In Europa war es zwei Jahrhunderte zuvor der »Schwarze Tod«, bei dem es sich vermutlich um die Beulenpest handelte. Sie raffte in den Jahren 1347 bis 1352 mindestens 30 Prozent der damaligen europäischen Bevölkerung dahin.
Merke: Wenn die Bevölkerung eine hohe Dichte erreicht und in Kontakt mit neuen Krankheitserregern kommt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die nächste große Epidemie ausbricht.
Interessanterweise wurden die meisten großen Epidemien (allerdings nicht alle, eine Ausnahme war die Pest) von Viren verursacht. Heute, da moderne Antibiotika allgemein zur Verfügung stehen und die tödliche Bedrohung durch Bakterien stark reduzieren, können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass auch die nächste von einem Virus hervorgerufen werden wird.
Um zu verstehen, warum manche Virusepidemien so groß oder sogar zu Pandemien werden, während andere nur vorübergehend aktiv sind oder ohne größere Folgen im Sande verlaufen, müssen wir zwei Eigenschaften von Viren betrachten: Übertragbarkeit und Virulenz. Sie sind entscheidende, definierende und folgenreiche Parameter. Neben wenigen anderen Faktoren bestimmen sie im Wesentlichen, welche Auswirkungen eine Epidemie insgesamt hat. Beide Größen sind keine Konstanten, sondern sie schwanken, sie hängen von anderen Faktoren ab. In ihnen spiegeln sich die Beziehungen zwischen einem Virus, seinem Wirt und seiner Umwelt wider. Sie sind nicht nur eine Eigenschaft von Mikroorganismen, sondern ein Merkmal der Gesamtsituation.
Ein Virus kann, wie wir wissen, nur durch Vermehrung und Übertragung überleben. Die Vermehrung findet aus den bereits genannten Gründen ausschließlich in den Zellen eines Wirtsorganismus statt. Unter »Übertragung« versteht man den Übergang von einem Wirtsorganismus zum anderen, und die »Übertragbarkeit« ist die Gesamtheit aller Eigenschaften, die ihm das ermöglichen. Können die Virionen sich in Rachen oder Nasenhöhle eines Wirtsorganismus anreichern, dort eine Reizung hervorrufen und dann mit einem Huster oder Nieser ins Freie geschleudert werden? Und wenn sie so in die Umwelt gelangt sind, können sie dann wenigstens für einige Minuten der Austrocknung und dem ultravioletten Licht widerstehen? Können sie in einen anderen Organismus eindringen, indem sie sich auf den Schleimhäuten – in Nase, Rachen und Augen – festsetzen, Zugang zu den Zellen finden und eine weitere Vermehrungsrunde in Gang setzen? Wenn ja, ist das Virus leicht übertragbar. Es verbreitet sich durch die Luft von einem Organismus zum nächsten.
Glücklicherweise können das nicht alle Viren. Wäre HIV -1 dazu in der Lage, Sie und ich, wir wären wahrscheinlich schon tot. Hätte das Tollwutvirus diese Fähigkeit, wäre es der entsetzlichste Krankheitserreger der Welt. Die Influenzaviren sind gut an die Verbreitung durch die Luft angepasst, und deshalb kann jeder neue Stamm die Welt innerhalb weniger Tage umrunden. Auch das SARS -Virus reist so oder anders mit den Tröpfchen, die beim Niesen und Husten aus den Atemwegen kommen – sie hängen dann in der Luft eines Hotelkorridors oder bewegen sich durch die Kabine eines Flugzeugs. Andere Viren bedienen sich anderer Übertragungswege, von denen jeder seine Vor- und Nachteile hat.
»Fäkal-orale Übertragung« hört sich ekelhaft an, ist aber weit verbreitet. Manche Viren sind damit sehr erfolgreich, weil Wirtsorganismen (einschließlich des Menschen) häufig gezwungen sind, Nahrung oder Wasser aufzunehmen, die durch Exkremente von anderen Mitgliedern der Population verunreinigt sind; dies gilt insbesondere dann, wenn sie in hoher Dichte leben. Das ist einer der Gründe, warum Kinder in verregneten Flüchtlingslagern an Dehydrierung (Austrockung) sterben. Das Virus
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