Spillover
Kratzer oder jede andere Form des Kontakts übertragen werden. Beim derzeitigen Stand der Ebola-Forschung kann man darüber nur Vermutungen anstellen. Und Urintropfen, die von einem Flughund in das Auge eines anderen fallen? Speichel auf gemeinsam verzehrten Früchten? Blutsaugende Insekten auf Flughunden? Der Speichel auf Früchten würde erklären, wie Ebola zu Schimpansen und Gorillas gelangt. Flughundwanzen (ja, diese Verwandten der Bettwanzen gibt es tatsächlich) wären eine denkbare Möglichkeit. Vielleicht ist Ebola aber auch ein natürlicher Bewohner afrikanischer Zecken, die ihn zwischen Flughunden, Gorillas und Schimpansen hin und her tragen. Aber das ist nur eine Idee von mir, für die es keinerlei Beleg gibt.
Für Viren, die in der Außenwelt nur wenig widerstandsfähig sind, stellt sexuelle Übertragung eine gute Strategie dar. Diese Form der Ansteckung erspart ihnen den Weg nach draußen. Mit Sonnenlicht oder trockener Luft kommen sie praktisch nie in Berührung. Die Virionen gehen vielmehr durch direkten (Intim-)Kontakt zwischen Wirtszellen in den empfindlichen Schleimhäuten der Geschlechtsorgane unmittelbar von einem Organismus zum anderen über. Aber auch dieser Weg hat seine Nachteile – insbesondere ist die Zahl der Übertragungsgelegenheiten geringer. Selbst Menschen mit ausschweifendem Lebenswandel haben nicht so oft Sex, wie sie ausatmen. Sexuell übertragbare Viren sind also meist geduldig. Sie verursachen eine dauerhafte Infektion und ertragen lange Latenzzeiten, die (wie bei den Herpesviren) von wiederholten Ausbrüchen unterbrochen werden, oder sie vermehren sich langsam (wie HIV -1 und Hepatitis B), bis zu einem bestimmten kritischen Punkt, von dem an es bergab geht. Diese Geduld im Wirtsorganismus verschafft dem Virus mehr Zeit und damit auch mehr sexuelle Begegnungen, in deren Verlauf es sich ausbreiten kann.
Eine weitere langsame, vorsichtige Form der Übertragung verläuft vertikal, das heißt von der Mutter zum Kind. Sie kann sich während der Schwangerschaft, während der Geburt oder (bei Säugetieren) über die Muttermilch ereignen. HIV -1 zum Beispiel wird häufig über die Plazenta von der Mutter zum Kind weitergegeben, aber auch während der Geburt über den Geburtskanal oder beim Stillen. In allen diesen Fällen ist die Übertragung aber durchaus nicht unvermeidbar, und die Wahrscheinlichkeit lässt sich mit geeigneten medizinischen Vorsichtsmaßnahmen verringern. Das Virus, das die Röteln verursacht, kann sich sowohl vertikal als auch durch die Luft verbreiten und einen Fetus töten oder schwer schädigen, beispielsweise durch Herzfehler, Erblindung oder Taubheit. Das ist der Grund, warum man jungen Mädchen zu der Zeit, als es noch keinen Rötelnimpfstoff gab, den Rat erteilte, sich mit dem Virus zu infizieren, bevor sie das gebärfähige Alter erreichten – sie wurden dann mäßig krank, waren aber anschließend auf Dauer immun. Aus strenger evolutionärer Sicht ist die vertikale Übertragung aber keine Strategie, mit der das Rötelnvirus langfristig Erfolg haben kann. Eine Fehlgeburt oder ein blindes Baby mit einem Herzfehler ist als Wirt wahrscheinlich eine Sackgasse und bedeutet für das Virus das Aus.
Ganz gleich, welchen Übertragungsweg ein Virus bevorzugt – durch die Luft, über das Blut, fäkal-oral, sexuell, vertikal oder indem es sich einfach wie das Tollwutvirus mit dem Speichel eines beißenden Tieres weitertragen lässt – immer gilt das Gleiche: Dieser Faktor existiert nicht unabhängig. Er ist nur die eine Seite der Medaille.
63
Virusstrategien II: Virulenz
Bei der anderen Seite der Medaille, der Virulenz, ist die Sache komplizierter. Eigentlich ist »Virulenz« ein so schillernder Begriff, dass manche Experten ihn überhaupt nicht benutzen. Sie sprechen lieber von »Pathogenität«, was ungefähr, aber nicht ganz genau das Gleiche bedeutet. Pathogenität ist die Fähigkeit eines Mikroorganismus, eine Krankheit zu verursachen. Virulenz ist das messbare Ausmaß einer solchen Krankheit, insbesondere im Vergleich zu anderen, ähnlichen Erregerstämmen. Die Aussage, ein Virus sei virulent, klingt im ersten Moment nach einer überflüssigen Dopplung – schließlich haben Substantiv und Adjektiv dieselbe lateinische Wurzel. Aber wenn »Virus« im Sinne von »giftiger Schleim« verwendet wird, stellt sich – bezogen auf die Virulenz – die Frage: Wie giftig ist er? Die Virulenz eines bestimmten Virus in einem bestimmten Wirt sagt etwas über die
Weitere Kostenlose Bücher