Spin
damit den Präsidenten aus der Reserve zu locken oder Lomax, seinen designierten Nachfolger, der Kritik auszuliefern. Kritik würde es unvermeidlich geben, aber Wun hatte seinen Wunsch bekundet, nicht zum Wahlkampfthema zu werden. Er wolle sich der Öffentlichkeit stellen, sagte er, doch er werde damit bis zum November warten.
Wun Ngo Wens Existenz war allerdings nur das auffälligste der mit seiner Ankunft verbundenen Geheimnisse. Es gab noch andere. Und daraus entwickelte sich ein seltsamer Sommer bei Perihelion.
Jason bestellte mich im August in den Nordflügel. Ich traf ihn in seinem Büro – seinem wirklichen Büro, nicht der geschmackvoll eingerichteten Suite, in der er offizielle Gäste und die Presse begrüßte –, einem fensterlosen Würfel mit einem Schreibtisch und einem Sofa. Wie er so in Jeans und Sweatshirt auf seinem Stuhl hockte, rings um ihn Stapel wissenschaftlicher Zeitschriften, sah er aus, als sei er aus dem ganzen Durcheinander herausgewachsen wie eine hydroponische Gemüsesorte. Er schwitzte. Kein gutes Zeichen bei Jason.
»Ich verliere wieder meine Beine«, sagte er.
Ich räumte ein bisschen Platz auf dem Sofa frei, setzte mich und wartete auf nähere Einzelheiten.
»Ein paar Wochen lang habe ich kleine Anfalle gehabt. Das Übliche. Nichts, was man nicht überspielen könnte. Aber es geht nicht weg. Es wird sogar schlimmer. Vielleicht müssen wir die Medikation anpassen.«
Vielleicht. Doch eigentlich gefiel es mir nicht, was die Medikamente in letzter Zeit mit ihm angestellt hatten. Jason nahm inzwischen täglich eine Hand voll von Pillen ein: Myelinaufbauer, um den Verlust von Nervengewebe zu verlangsamen, neurologische Anreger, die dem Gehirn helfen sollten, beschädigte Regionen neu zu vernetzen, und Sekundärmedikation gegen die Nebenwirkungen der Primärmedikation. Konnten wir die Dosis erhöhen? Möglicherweise. Doch das Verfahren hatte eine Toxizitätsgrenze, die schon jetzt bedenklich nahe gerückt war. Er hatte nicht nur einiges an Gewicht verloren, auch etwas womöglich noch Wichtigeres schien vom Verlust bedroht: ein gewisses emotionales Gleichgewicht. Jason redete schneller und lächelte seltener. Während er früher vollkommen in seinem Körper zu ruhen schien, bewegte er sich nun wie eine Marionette – wenn er etwa nach einem Becher griff, schoss seine Hand übers Ziel hinaus und musste behutsam zurückgesteuert werden.
»In jedem Fall«, sagte ich, »müssen wir Dr. Malmsteins Meinung einholen.«
»Es ist völlig ausgeschlossen, dass ich lange genug weg kann, um ihn aufzusuchen. Hier hat sich einiges verändert, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Können wir nicht eine telefonische Konsultation durchführen?«
»Vielleicht. Ich frage ihn.«
»Und könntest du mir inzwischen auch noch einen anderen Gefallen tun?«
»Was für einen, Jase?«
»Erkläre Wun mein Problem. Stell ein paar Bücher über das Thema für ihn zusammen.«
»Medizinische Bücher? Warum, ist er Arzt?«
»Nicht direkt, aber er hat eine Menge Informationen mitgebracht. In den biologischen Wissenschaften sind uns die Marsianer weit voraus.« Er sagte das mit einem schiefen Grinsen, das ich nicht interpretieren konnte. »Er meint, dass er vielleicht helfen kann.«
»Ist das dein Ernst?«
»Mein voller Ernst. Schau nicht so schockiert. Wirst du dich mit ihm unterhalten?«
Ein Mann von einem anderen Planeten. Ein Mann vor dem Hintergrund von einhunderttausend Jahren marsianischer Geschichte. »Nun… ja. Es wäre mir eine Ehre, mich mit ihm zu unterhalten.«
»Dann arrangiere ich das.«
»Aber sollte er über medizinische Kenntnisse verfügen, mit denen man AMS wirksam behandeln kann, dann müssen sie besseren Ärzten als mir zugänglich gemacht werden.«
»Wun hat ganze Enzyklopädien mitgebracht. Es sind bereits einige Leute dabei, sie zu durchforsten – Teile davon jedenfalls – und nach nützlichen Informationen, auch medizinischer Art, Ausschau zu halten. Das hier ist nur eine kleine Ablenkung für ihn.«
»Überrascht mich, dass er noch Zeit für kleine Ablenkungen hat.«
»Er langweilt sich häufiger, als du glaubst. Ihm fehlen einfach ein paar Freunde. Ich dachte mir, es würde ihm gefallen, sich einmal mit jemandem zu unterhalten, der ihn nicht für einen Erlöser hält. Oder für eine Bedrohung. Aber trotzdem möchte ich, dass du mit Malmstein redest.«
»Natürlich.«
»Und ruf ihn von dir zu Hause aus an. Ich traue den Telefonen hier nicht mehr.«
Er lächelte,
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