Spin
einer Glyzerinlösung. Jede Zelle ist eine Eichel.«
»Sie kennen Eicheln?«
»Ich hab darüber gelesen. Es ist eine gebräuchliche Metapher. Eicheln und Eichen, nicht wahr? Wenn man eine Eichel vom Boden aufhebt, hält man die Möglichkeit einer Eiche in der Hand, und zwar nicht nur eine einzelne Eiche, sondern die gesamte Nachkommenschaft dieser Eiche über Jahrhunderte hinweg. Genügend Eichenholz, um ganze Städte zu bauen. Werden Städte aus Eichenholz gebaut?«
»Nein, aber das spielt keine Rolle.«
»Was Sie da halten, ist eine Eichel. Vollkommen untätig, wie gesagt, und diese spezielle Probe ist vermutlich sogar ziemlich tot, wenn man bedenkt, wie viel Zeit sie unter terrestrischen Bedingungen verbracht hat. Wenn Sie sie analysieren, werden Sie allenfalls ein paar ungewöhnliche Substanzen finden.«
»Aber?«
»Aber wenn Sie sie in eine eisige, luftleere Umgebung bringen, eine Umgebung etwa wie die Oortsche Wolke, dann, Tyler, erwacht sie zum Leben. Dann beginnt sie, sehr langsam, aber sehr geduldig, zu wachsen und sich fortzupflanzen.«
Die Oortsche Wolke. Die kannte ich aus Gesprächen mit Jason und aus den Science-Fiction-Romanen, die ich noch immer gelegentlich las. Die Oortsche Wolke war eine Ansammlung kometartiger Himmelskörper in einem Raum, der sich ungefähr von der Umlaufbahn des Pluto bis halb zum nächstgelegenen Stern erstreckte. Die kleinen Objekte waren alles andere als dicht gedrängt – sie nahmen einen unvorstellbar großen Raum ein –, aber die Summe ihrer Masse, meist in der Form von schmutzigem Eis, übertraf die Masse der Erde um ein Zwanzig- bis Dreißigfaches.
Jede Menge zu fressen, falls Eis und Staub das ist, was man gerne frisst.
Wun beugte sich vor. Seine Augen, gebettet in eine Haut aus zerknittertem Leder, waren hell. Er lächelte, was ich als ein Zeichen von Ernsthaftigkeit zu interpretieren gelernt hatte: Marsianer lächeln, wenn das, was sie sagen, von Herzen kommt.
»Das war nicht ganz unumstritten bei uns, wissen Sie. Was Sie in der Hand halten, hat die Fähigkeit, nicht nur unser Sonnensystem, sondern auch viele andere umzuwandeln. Und was dabei herauskommt, ist ungewiss. Die Replikatoren sind zwar nicht organisch im herkömmlichen Sinne, aber sie sind lebendig. Es sind lebende autokatalytische Rückkopplungsschleifen, die sich unter bestimmten Einflüssen verändern. Genau wie Menschen. Oder Bakterien. Oder…«
»Oder Murkuds.«
Er grinste. »Oder Murkuds.«
»Mit anderen Worten, sie können sich entwickeln.«
»Sie werden sich entwickeln, und zwar auf eine Weise, die wir nicht vorhersehen können. Allerdings haben wir dieser Entwicklung Grenzen gesetzt. Oder jedenfalls glaube ich das. Wie gesagt, das Thema wurde sehr kontrovers diskutiert.«
Wenn Wun über marsianische Politik sprach, stellte ich mir immer lauter faltige Männer und Frauen in pastellfarbenen Togen vor, die von einem Podium herab abstrakte Diskussionen führten. In Wirklichkeit, versicherte Wun, benahmen sich die marsianischen Parlamentarier eher wie mit Geldscheinen wedelnde Farmer bei einer Getreideauktion. Und die Kleidung – nun ja, ich versuchte erst gar nicht, mir die Kleidung bildlich vorzustellen; bei gesellschaftlichen Anlässen, so Wun, kleideten die Marsianer beiden Geschlechts sich wie die Herzkönigin in einem Kartenspiel.
Während also die Diskussionen ausdauernd und sehr engagiert geführt wurden, war der Plan selbst relativ einfach. Die Replikatoren sollten in die fernen, kalten Außenbereiche des Sonnensystems expediert werden. Ein kleiner Teil davon würde sich auf zwei oder drei der Kometenkerne niederlassen, die die Oortsche Wolke bildeten. Dort würden sie dann anfangen, sich fortzupflanzen.
Ihre genetische Information, so Wun, war in Moleküle eingeschrieben, die instabil wurden, sobald sie höheren Temperaturen als auf den Neptunmonden ausgesetzt waren. Doch in der hyperkalten Umgebung, für die sie gemacht waren, setzten submikroskopische Fasern einen langsamen, gründlichen Stoffwechselprozess in Gang. Die Replikatoren wuchsen in einem Tempo, neben dem sich das Wachstum einer Bristlecone-Pinie vergleichsweise überstürzt ausnahm, aber sie wuchsen, assimilierten dabei organische Moleküle, formten Eis zu Zellwänden, -rippen, -sparren und -klebern.
Sobald sie, grob gerechnet, etwa zehn bis zwanzig Kubikmeter Kometenstoff verbraucht hatten, wurden ihre Verbindungen untereinander allmählich komplexer und ihr Verhalten zielgerichteter. Hoch entwickelte
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