Spin
verstören können – sie hatte ihn eine Woche nach Studienabschluss geheiratet –, ansonsten aber keinen Menschen ernsthaft schockiert hätte. Mit Sicherheit war es kein Grund, die Schachtel im Keller zu verstecken, schon gar nicht, wenn sie vorher jahrelang gut sichtbar auf dem Regal gestanden hatte.
War es überhaupt meine Mutter gewesen, die sie versteckt hatte? Ich wusste nicht, wer alles in ihrem Haus gewesen war in der Zeit zwischen ihrem Schlaganfall und meinem Eintreffen einen Tag später. Carol hatte sie gefunden, vermutlich hatten einige Bedienstete aus dem Großen Haus hinterher beim Saubermachen geholfen, und es mussten Sanitäter da gewesen sein, die sie versorgt und transportfertig gemacht hatten. Keiner von ihnen hätte einen auch nur annähernd plausiblen Grund gehabt, ANDENKEN (AUSBILDUNG) in den Keller zu tragen und in die Lücke zwischen Heizkessel und Wand zu schieben.
Und vielleicht war es auch völlig egal. Es lag schließlich kein Verbrechen vor, sondern nur ein kurioses Verschwinden und Wiederauftauchen. Konnte auch ein Poltergeist gewesen sein. Vermutlich würde ich es nie erfahren, und es war sinnlos, sich weiter damit zu beschäftigen. Alles, was sich in diesem Zimmer, in diesem Haus befand, einschließlich der Kartons, würde früher oder später verwertet, verkauft oder weggeworfen werden müssen. Ich hatte es auf die lange Bank geschoben, Carol ebenso, doch es war überfällig.
Aber bis dahin…
Bis es so weit war, stellte ich ANDENKEN (AUSBILDUNG) erst einmal zurück aufs Regal, zwischen ANDENKEN (MARCUS) und KRIMSKRAMS. Und machte das leere Zimmer damit wieder vollständig.
Die heikelste Frage, die ich Wun Ngo Wen in Bezug auf Jasons Behandlung gestellt hatte, war die nach den möglichen Wechselwirkungen des Präparats mit anderen Medikamenten. Ich konnte Jasons konventionelle Medikation nicht absetzen, ohne einen Rückfall zu provozieren. Doch ebenso beunruhigend fand ich die Vorstellung, seine tägliche Medikamentendosis mit Wuns biochemikalischer Generalüberholung zu kombinieren.
Wun versprach, dass es keine Probleme geben werde. Der Langlebigkeitscocktail sei kein Medikament, keine »Droge« im herkömmlichen Sinne, was ich in Jasons Blutkreislauf injizieren würde, entspreche eher einem Computerprogramm. Konventionelle Medikamente interagierten mit Proteinen und Zelloberflächen – Wuns Mittelchen interagierte mit der DNA selbst.
Dennoch: Es musste in eine Zelle eintreten, um sein Werk zu tun, und auf dem Weg dorthin musste es sich mit Jasons Blutchemie und Immunsystem auseinander setzen – oder? Wun hatte erklärt, dass das alles keine Rolle spiele. Der Langlebigkeitscocktail sei so flexibel, dass er unter allen physiologischen Bedingungen – es sei denn, der Proband ist tot – arbeiten könne.
Doch das für AMS zuständige Gen war nie zum Roten Planeten gelangt und die Medikamente, die Jason einnahm, waren dort unbekannt. Und auch wenn Wun versicherte, dass meine Bedenken unbegründet waren, konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass er dabei kaum einmal lächelte. Also versuchten wir, auf Nummer sicher zu gehen: Eine Woche vor der ersten Injektion hatte ich begonnen, Jasons AMS-Medikation zurückzufahren. Nicht abzusetzen, nur zu reduzieren.
Die Strategie schien aufgegangen zu sein. Als wir im Großen Haus eintrafen, zeigte Jason trotz der geringeren Medikamentation nur leichte Symptome, sodass wir die Behandlung optimistisch angingen.
Drei Tage später hatte er Fieberschübe, gegen die ich wenig ausrichten konnte. Am nächsten Tag war er die meiste Zeit bewusstlos. Noch einen Tag später färbte sich seine Haut rot und entwickelte Blasen. Am Abend begann er zu schreien.
Trotz des Morphiums, das ich ihm gab, schrie er immer weiter. Kein Schreien aus vollem Hals, eher ein Stöhnen, das sich periodisch zu großer Lautstärke steigerte, ein Laut, den man eher von einem kranken Hund erwarten würde als von einem Menschen. Es geschah völlig willkürlich. In Phasen der Klarheit machte er dieses Geräusch nicht und konnte sich auch nicht erinnern, es gemacht zu haben, obwohl sein Kehlkopf von der Anstrengung schmerzhaft entzündet war.
Carol vermittelte tapfer den Anschein, damit klarzukommen. In manchen Teilen des Hauses waren Jasons Klagerufe fast nicht zu hören – die hinteren Schlafzimmer, die Küche –, und dort hielt sie sich die meiste Zeit auf, las oder lauschte dem lokalen Radiosender. Doch die Belastung war offenkundig, und es dauerte nicht lange,
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