Spin
gelernt, in unserem Alter, freundlich, intelligent – lebendig im Geist, nannte Simon sie. Wir sind zusammen essen gegangen und haben über die Parusie gesprochen. Dann haben sie uns in ihr Hotelzimmer eingeladen und plötzlich fingen sie an, Kokslinien auf den Tisch zu streuen und Pornovideos abzuspielen. Es werden auch alle möglichen Randgruppen von NK angezogen, keine Frage. Und für die meisten von ihnen existiert die Theologie kaum, außer als verschwommenes Bild vom Garten Eden. Aber in ihren besten Ausprägungen ist die Bewegung all das, was sie zu sein beansprucht – ein echter, lebendiger Glaube.«
»Glaube woran? Ekstasis? Promiskuität?«
Ich bedauerte meine Worte in dem Moment, als ich sie ausgesprochen hatte. Diane schien verletzt. »Ekstasis bedeutet nicht Promiskuität. Jedenfalls nicht, wenn sie gelingt. Aber im Leib Gottes ist keine Handlung verboten, solange sie nicht der Rachsucht oder der Wut entspringt, solange sie sowohl göttliche als auch menschliche Liebe ausdrückt.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Ich muss etwas schuldbewusst dreingeblickt haben. Diane sah mein Gesicht und lachte.
Jasons erste Worte, als ich abnahm: »Ich habe gesagt, es würde eine Vorwarnung geben. Tut mir Leid. Ich hatte Unrecht.«
»Was?«
»Hast du den Himmel nicht gesehen, Tyler?«
Also gingen wir nach oben, um uns ein Fenster zu suchen, von dem aus man den Sonnenuntergang sehen konnte.
Das Schlafzimmer nach Westen war großzügig geschnitten, mit einer Mahagoni-Chiffoniere, einem Bett mit Messinggeländer und großen Fenstern. Ich zog die Vorhänge auf. Diane stockte der Atem.
Da war keine untergehende Sonne. Oder, besser gesagt, da waren gleich mehrere.
Der gesamte westliche Himmel war erleuchtet. Statt einer einzelnen Sonnenkugel war ein rötlich schimmernder Bogen zu sehen, der sich über mindestens fünfzehn Grad des Horizonts erstreckte, und was in ihm enthalten war, das sah aus wie eine flackernde Vielfachbelichtung von einem Dutzend oder mehr Sonnenuntergängen. Das Licht war erratisch, es loderte auf und verblasste wie ein fernes Feuer.
Endlos lange starrten wir hin. Schließlich sagte Diane: »Was ist das, Tyler? Was geschieht da?«
Ich erzählte ihr von den chinesischen Atomsprengköpfen.
»Jason wusste, dass das passieren könnte?«, fragte sie, gab sich dann aber gleich selbst die Antwort. »Natürlich.« Das seltsame Licht verlieh dem Zimmer einen rosenfarbenen Anstrich und legte sich über ihre Wangen wie ein Fieber. »Wird es uns umbringen?«
»Jason glaubt es nicht. Es wird den Leuten allerdings eine Heidenangst einjagen.«
»Aber ist es gefährlich? Strahlung oder irgendwas?«
Ich bezweifelte es. Aber ausschließen konnte man es natürlich nicht. »Probier doch mal das Fernsehen«, sagte ich. In jedem Schlafzimmer gab es einen in die Walnusstäfelung eingelassenen Plasmabildschirm. Ich nahm an, dass jede auch nur annähernd tödliche Strahlung die Übertragung von Funkwellen verhindern würde.
Aber das Fernsehen funktionierte gut genug, um uns Nachrichtenbilder von Menschenmassen zu zeigen, die in den Städten Europas zusammenströmten (wo es bereits dunkel war, jedenfalls so dunkel, wie es in dieser Nacht werden würde). Keine tödliche Strahlung, aber jede Menge Panik. Diane saß regungslos auf der Bettkante, die Hände im Schoß gefaltet, sichtlich verängstigt. Ich setzte mich neben sie und sagte: »Wenn das wirklich irgendwie tödlich wäre, würden wir jetzt schon nicht mehr leben.«
Draußen stolperte der Sonnenuntergang der Dunkelheit entgegen. Das diffuse Leuchten löste sich in mehrere klar geschiedene Sonnen auf, alle geisterblass, und dann plötzlich in eine Spirale von Sonnenlicht, wie eine strahlende Feder, die sich über den ganzen Himmel bog und ebenso jäh wieder verschwand.
Wir saßen Hüfte an Hüfte, während der Himmel sich verdunkelte.
Dann traten die Sterne hervor.
Es gelang mir, Jason noch einmal zu erreichen, bevor Netze zusammenbrachen. Simon hatte gerade die Zündkerzen für sein Auto bezahlt, erzählte er, als der Himmel explodierte. Die Straßen aus Stockbridge heraus waren bereits verstopft, das Radio berichtete von vereinzelten Plündereien in Boston und zum Erliegen kommendem Verkehr auf allen Hauptstraßen, daher war Jason auf den Parkplatz eines Motels gefahren und hatte für die Nacht ein Zimmer für sich und Simon gemietet. Am nächsten Morgen, sagte er, werde er wahrscheinlich nach Washington müssen, aber vorher werde
Weitere Kostenlose Bücher