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Spin

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Titel: Spin Kostenlos Bücher Online Lesen
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Unterdessen war Diane schon dabei, Sachen in den Koffer zu werfen: Kleidung, Dokumente – sowohl echte als auch gefälschte –, Speicherkarten, ein gepolstertes Gestell mit kleinen Flaschen und Spritzen. »Ich kann nicht aufstehen«, versuchte ich zu sagen, aber die Worte kamen nicht richtig heraus.
    Kurz darauf begann sie mich anzuziehen, und ich bewahrte mir ein bisschen Würde, indem ich meine Beine ohne Aufforderung anhob und die Zähne zusammenbiss, anstatt zu schreien. Ich setzte mich auf, und sie gab mir etwas Wasser aus der Flasche neben dem Bett. Dann führte sie mich ins Bad, wo ich ein dickflüssiges Rinnsal kanariengelben Urins von mir gab. »Verdammt«, sagte sie, »du bist völlig ausgetrocknet.« Sie gab mir mehr Wasser und eine Spritze mit Schmerzmittel, das in meinem Arm brannte wie Gift. »Tyler, es tut mir wirklich Leid!« Aber doch nicht so sehr, dass sie davon abgelassen hätte, mich in einen Regenmantel zu zwängen und mir einen schweren Hut auf den Kopf zu setzen.
    Ich war aufmerksam genug, die Besorgnis in ihrer Stimme zu hören. »Wovor laufen wir weg?«
    »Sagen wir einfach, ich hatte eine Begegnung mit einigen unangenehmen Leuten.«
    »Und wo wollen wir hin?«
    »Ins Landesinnere. Beeil dich!«
    Also hasteten wir den Hotelflur entlang und die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Diane schleifte den Koffer mit der linken und stützte mich mit der rechten Hand. Es war ein langer Marsch. Die Treppe vor allem. »Hör auf zu stöhnen«, flüsterte sie einige Male. Ich gehorchte. Glaube ich jedenfalls.
    Dann hinaus in die Nacht. Regentropfen prallten auf den schmutzigen Bürgersteig, zischten auf der Motorhaube eines überhitzten, mindestens zwanzig Jahre alten Taxis. Der Fahrer sah mich aus dem Schutz seines Wagens misstrauisch an. Ich starrte zurück. »Er ist nicht krank«, sagte Diane und setzte eine imaginäre Flasche an den Mund. Der Fahrer blickte finster drein, akzeptierte aber die Geldscheine, die sie ihm in die Hand drückte.
    Die Wirkung des Narkotikums setzte ein, während wir fuhren. Die nächtlichen Straßen von Padang rochen abgestanden, nach feuchtem Asphalt und fauligem Fisch. Ölteppiche teilten sich wie Regenbögen unter den Rädern des Taxis. Wir verließen das Touristenviertel mit seinen Neonlichtern und fuhren in das Gewirr der Läden und Häuser hinein, das in den letzten dreißig Jahren um die Stadt herum gewachsen war, behelfsmäßige Slums, die peu à peu dem neuen Wohlstand wichen, den Bulldozern, die unter Abdeckplanen zwischen Blechdachhütten parkten. Mehrgeschossige Mietshäuser wuchsen wie Pilze aus dem Kompost der Sqattersiedlungen. Dann durchquerten wir das Industriegebiet, überall graue Mauern und Stacheldraht, und ich glaube, ich schlief wohl wieder ein.
    Träumte nicht von den Seychellen, sondern von Jason. Von Jason und seiner Liebe zu Netzwerken (»nicht die technische Spielerei, sondern das Netz«), von den Netzwerken, die er geschaffen und bewohnt hatte, und davon, wo diese Netzwerke ihn hingeführt hatten.

 
UNRUHIGE NÄCHTE
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    Seattle, im September, fünf Jahre nach dem fehlgeschlagenen chinesischen Raketenangriff. Ein verregneter Freitag. Ich fuhr im Feierabendverkehr nach Hause. In meiner Wohnung angekommen, schaltete ich die Audioschnittstelle ein und rief eine Liste auf, die ich unter dem Titel »Therapie« zusammengestellt hatte.
    Es war ein langer Tag in der Harborview-Notaufnahme gewesen. Zwei Schusswunden, ein Selbstmordversuch. An der Innenseite meiner Augenlider trieb sich noch eines der Bilder herum: Blut, das von den Rädern einer Rollbahre spritzt. Ich zog meine regenfeuchten Sachen aus, schlüpfte in Jeans und Pullover, goss mir etwas zu trinken ein und stellte mich ans Fenster, um das Flimmern der Stadt zu betrachten. Irgendwo da draußen war der lichtlose Raum des Puget Sound, von wogenden Wolken verdunkelt. Der Verkehr auf der I-5 war fast zum Stillstand gekommen, ein leuchtender roter Strom.
    Mein Leben, im Wesentlichen so, wie ich es eingerichtet hatte. Und es hing ganz an einem Wort.
    Dann sang Astrid Gilberto, voll Wehmut und ein bisschen falsch, über Gitarrenakkorde und Corcovado, aber ich war noch immer zu aufgedreht, um darüber nachzudenken, was Jason gestern Abend am Telefon gesagt hatte. Zu aufgedreht sogar, um die Musik so zu hören, wie es ihr angemessen war. »Corcovado«, »Desafinado«, ein paar Stücke von Gerry Mulligan, ein paar von Charlie Byrd. Therapie. Aber alles verschwamm im Geräusch des Regens. Ich

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