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Spin

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Titel: Spin Kostenlos Bücher Online Lesen
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schob mir etwas zu essen in die Mikrowelle und verzehrte es, ohne es zu schmecken; dann begrub ich alle Hoffnung auf karmische Gelassenheit und beschloss, an Giselles Tür zu klopfen, zu sehen, ob sie zu Hause war.
    Giselle Palmer wohnte drei Türen weiter im gleichen Flur. Sie öffnete mir in zerschlissener Jeans und einem alten Flanellhemd, was dafür sprach, dass sie einen häuslichen Abend verbringen wollte. Ich fragte sie, ob sie beschäftigt sei oder ob sie vielleicht Lust habe, ein bisschen mit mir abzuhängen.
    »Ich weiß nicht, Tyler. Du siehst ziemlich düster aus.«
    »Es ist eher so, dass ich mich in einem Konflikt befinde. Ich denke daran, die Stadt zu verlassen.«
    »Tatsächlich? So eine Art Geschäftsreise?«
    »Nein, ich meine endgültig.«
    »Oh?« Ihr Lächeln verflog. »Wann hast du denn das entschieden?«
    »Ich hab mich noch nicht entschieden. Das ist ja der springende Punkt.«
    Sie machte die Tür weiter auf und winkte mich hinein. »Im Ernst? Wo willst du denn hin?«
    »Lange Geschichte.«
    »Soll heißen, du brauchst erst einen Drink, bevor du darüber reden kannst?«
    »So ungefähr.«
     
    Giselle hatte sich mir letztes Jahr bei einer Mieterversammlung im Keller des Hauses vorgestellt. Sie war vierundzwanzig und reichte mir ungefähr bis zum Schlüsselbein. Sie arbeitete in einem Restaurant in Renton, doch als wir anfingen, uns sonntagnachmittags zum Kaffee zu treffen, erzählte sie mir, sie sei »eine Nutte, eine Prostituierte. Das ist mein Nebenjob.«
    Gemeint war damit, dass sie einem lockeren Kreis von Freundinnen angehörte, in dem die Namen älterer (gesellschaftsfähiger, in der Regel verheirateter) Männer zirkulierten, Männer, die bereit waren, gutes Geld für Sex zu zahlen, aber einen Horror vor dem Straßenstrich hatten. Als sie mir das erzählte, hatte sie ihre Schultern gestrafft und sah mich herausfordernd an, für den Fall, dass ich schockiert oder abgestoßen wäre. War ich aber nicht. Wir lebten schließlich in Spin-Zeiten. Leute in Giselles Alter schufen sich ihre eigenen Regeln, ungeachtet möglicher Folgen, und Leute wie ich enthielten sich eines Urteils.
    Wir tranken weiterhin zusammen Kaffee und gingen auch manchmal zum Essen, und einige Male schrieb ich ihr eine Überweisung, die sie für ihre Blutuntersuchungen brauchte. Ihrem letzten Test zufolge war Giselle HIV-negativ, und die einzige übertragbare Krankheit, gegen die sie Antikörper entwickelt hatte, war der Westnilvirus. Mit anderen Worten: sie war vorsichtig gewesen und hatte Glück gehabt.
    Nun war es, berichtete Giselle, mit dem gewerblichen Sex allerdings so, dass er, selbst wenn er wie in ihrem Fall auf Amateurniveau betrieben wurde, das eigene Leben immer mehr prägte und vereinnahmte. Zusehends, sagte sie, werde man zu jemandem, der Kondome und Viagra mit sich herumträgt. Aber warum tat sie es dann, wenn sie doch auch, nur so als Beispiel, einen Nachtschichtjob bei Wal-Mart antreten konnte? Das war eine Frage, die ihr nicht gefiel, die sie defensiv beantwortete: »Vielleicht ist es ein Tick. Oder vielleicht auch ein Hobby, nicht wahr, so wie Modelleisenbahnen.« Ich wusste jedoch, dass sie vor Jahren in Saskatoon vor einem Stiefvater davongelaufen war, der sie missbraucht hatte, und es war nicht schwer, daraus Schlüsse zu ziehen. Und natürlich hatte sie dieselbe Entschuldigung für riskantes Verhalten, wie wir sie alle, die wir in einem bestimmten Alter waren, hatten: die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit unserer aller Auslöschung. Sterblichkeit übertrumpft die Moral, so hatte es ein Schriftsteller meiner Generation einmal ausgedrückt.
    »Nun denn«, sagte sie jetzt, »wie betrunken soll es denn sein? Nur angeschickert oder sternhagelvoll? Vielleicht musst du’s aber auch nehmen, wie’s kommt. Die Bar ist im Moment etwas dünn bestückt.«
    Sie mixte mir etwas, das hauptsächlich aus Wodka bestand und schmeckte, als sei es aus einem Benzintank gepumpt worden. Ich nahm die heutige Zeitung von einem Stuhl und setzte mich. Giselles Wohnung war recht anständig eingerichtet, aber mit dem Saubermachen hielt sie es nicht besser als ein College-Frischling im Studentenwohnheim. Bei der Zeitung war die Kommentar- und Meinungsseite aufgeschlagen. Der Cartoon handelte vom Spin: die Hypothetischen waren als ein paar schwarze Spinnen gezeichnet, die die Erde mit ihren haarigen Beinen umklammerten. Der Text dazu; FRESSEN WIR SIE GLEICH ODER WARTEN WIR BIS ZUR WAHL?
    »Das kapier ich überhaupt

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