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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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sich aus, Kontakt aufzunehmen.
    Obwohl Otherworld eine reine Fantasiewelt war, in der man sich mittels eines so genannten »Avatars« bewegte, dessen Erscheinungsform man frei wählen konnte, spürte er eine erstaunlich starke Emotion, wenn er die Anweisungen der Agentur ausführte und die Zielperson, die sich ihm in großer Offenheit zugewandt hatte, bewusst täuschte und manipulierte.
    Seine Fähigkeiten, Programm-Codes zu knacken, hatten es ihm ermöglicht, die Zielperson in Otherworld zu identifizieren, obwohl er nur ein paar wenige Informationen von der Agentur erhalten hatte. In der verschlüsselten Mitgliederdatenbank von Otherworld hatte er ohne viel Mühe das Geburtsdatum der Zielperson und ihren Vornamen gefunden. Und wenige Sekunden später wusste er, welcher Avatar-Name zu dem Eintrag gehörte. Die Datenbanken von Otherworld waren wirklich stümperhaft gesichert. Und das gleiche galt auch für den Rest dieser Cyberwelt. Er konnte schon nach wenigen Minuten in die Programm-Codes eingreifen und Otherworld nach seinen Vorstellungen verändern.
    Er hatte sich »Sal« genannt und sich in Gestalt einer Frau an die Zielperson herangemacht. Dabei hatte er richtig Spaß und ließ seiner Kreativität freien Lauf. Aus »Sal« hatte er ein amphibisches Wesen gemacht, das ohne Geräte unter Wasser atmen konnte und das sich mit tänzerischen Bewegungen, die an Schwimmen erinnerten, durch die Luft bewegen konnte. Als er sich der Zielperson das erste Mal in Otherworld genähert hatte, war es ihm fast wie ein erotischer Akt vorgekommen. Es war einfach sexy, dieses Versteckspiel in Otherworld , das zugleich eine extreme Freiheit ermöglichte.
    Mittlerweile funktionierte sein Spiel mit der Zielperson perfekt, so perfekt, dass er sich nicht mehr so richtig wohl dabei fühlte. Er hatte Skrupel, so heimtückisch aus dem Hinterhalt zu arbeiten. Vor allem wusste er auch nicht, welchem Ziel er diente und mit wem er sich dort wirklich traf. Die Agentur hatte ihm nur gesagt, dass es sich um einen jungen Mann aus Berlin handeln würde und ihm dessen Namen mitgeteilt. Mehr wusste er nicht. Er kannte die Absichten der Agentur nicht. Und er verstand nicht, was die Inhalte und Botschaften bedeuteten, die er weitergab, wusste nicht, was die Agentur mit Hilfe dieser digitalen Scheinwelt in der realen Welt erreichen wollte. Er konnte nur ahnen, was dahinter steckte. Und je länger er an dem Auftrag arbeitete, desto unbehaglicher fühlte er sich.
    Nach der ersten Einsatzbesprechung mit den Kontaktleuten in Berlin wusste er, dass er Recht gehabt hatte mit seinen Ahnungen, und er wusste, warum die Agentur darauf bestanden hatte, ihn vor Ort zu haben. Die Sache war extrem heikel.
    Er hatte viel erlebt in den letzten Jahren und er war immer loyal gewesen, immer. Wenn er sich fragte, warum, hatte er immer eine klare Antwort gehabt: Freiheit und Dankbarkeit. Als die Soldaten der US-Armee ihn befreit hatten, war er nahezu blind gewesen. Sein Körper war zum Skelett abgemagert, er war unendlich schwach. Trotzdem wollte er die ersten Schritte außerhalb der Gefängniszelle ohne Hilfe tun. Das verlangte sein unbeugsamer Stolz. Er schaffte nur die ersten fünf Schritte, dann verlor er das Bewusstsein.
    Die ersten Jahre war er nur glücklich und dankbar gewesen. Der Fonds für die Opfer des Talibanregimes hatte ihm beim Start in Amerika geholfen. Das kleine Appartement in Downtown Manhattan hatte ihm die Gelegenheit gegeben, die Facetten einer freien Stadt des Westens kennen zu lernen. Endlich hatte er auch Gelegenheit, Informatik zu studieren, das Studium, von dem er immer geträumt hatte. Und der anschließende Job als Berater für General Electrics verschaffte ihm das Einkommen, das er brauchte, um die lauen Sommernächte von New York zu genießen. Er hatte sich nie gefragt, warum der Fonds so großzügig war, warum man ihm diesen Job als Berater für Geschäftstätigkeiten in Afghanistan verschafft hatte. Er hatte keine Ahnung davon. Monate später hatte er darüber Klarheit erhalten. Ein Abteilungsleiter bei GE hatte ihn zu sich nach Hause zum Essen eingeladen. Von diesem Abend an hatte er angefangen, für die Agentur zu arbeiten.
    Jetzt hatte er seine Schuld abgetragen, hatte er diesen amerikanischen GIs im Vielfachen zurückgegeben, dass sie sein Leben gerettet und ihn aus der Gefangenschaft der Taliban befreit hatten. Er hatte seine Schuld gegenüber Amerika abgetragen.
    All die Jahre in Afghanistan war das Internet für ihn das Symbol der

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