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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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Freiheit gewesen, die Verbindung zur Freiheit, so hatte er es immer empfunden. Die Taliban wollten die Menschen in Unwissenheit halten, deshalb waren die Medien für sie Feinde. Sie filterten die Nachrichten, wo immer es möglich war, und sorgten dafür, dass der Zugang zu Informationen streng begrenzt war.
    Sein erster Kontakt mit dem Netz war ein Aufbruch in eine neue Welt gewesen. Hier herrschte die vollkommene Freiheit, hier konnte jeder seine Meinung sagen, öffentlich, unkontrolliert und in vollkommener Freiheit. Die Vielfalt hatte ihn schier überwältigt. Das war es, wovon er lange Zeit geträumt hatte.
    Als man ihm nahelegte, sich für den Job einen neuen Namen auszusuchen, hatte er sich für »Steve« als Vornamen entschieden, weil er Steve Jobs, den Boss von Apple , immer als die Galionsfigur einer freien, weltumspannenden Gemeinschaft von Computerfreaks gesehen hatte. Heute war er anderer Meinung. Und er wusste warum.
    Als Informatiker gab man ihm Aufträge, die mit Computern und Datennetzen zu tun hatten. Er lernte, auf der Tastatur der Netzwerke zu spielen. In einem Ausmaß, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen und Visionen nicht vorgestellt hatte. Er kundschaftete Datenbestände aus und streute Gigabytes an Informationen in den verschiedensten Ländern über die Jahre hinweg. Informationen, die manchmal richtig waren, in der Regel aber waren sie falsch.
    Seit »09/11«, dem Tag des Angriffs auf die Twin Towers des World Trade Centers, hatte man ihn in der Terrorismusbekämpfung eingesetzt. Er verfolgte die sogenannten Feinde der Demokratie, die Feinde Amerikas, in den Datennetzen. Im Rahmen der weltweiten Jagd auf Al-Kaida-Kämpfer und -Sympathisanten durchkämmte er die Netze, ermittelte Schläfer und sorgte dafür, dass viele von ihnen nach Guantanamo kamen, viele von ihnen zu Unrecht. So half er im Namen der Freiheit, die Menschenwürde mit Füssen zu treten. Viele Unschuldige mussten leiden durch sein Handeln.
    So verlor er mehr und mehr den Glauben an Amerika, dieses Land der Freiheit. Er hatte keine wirkliche Meinung dazu. Es schmerzte ihn nur. Seine Dankbarkeit war zu groß, als dass er die Seiten gewechselt hätte. Amerika war noch immer der Versuch der Freiheit, wenn auch in seinen Augen mehr und mehr ein gescheiterter Versuch. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Man log und betrog im Namen der Freiheit, man entführte unschuldige Menschen, ohne sie anzuhören, ohne ein Verfahren, ohne Gerechtigkeit – sein Konto war ausgeglichen.
    Seit er so dachte, seit er innerlich immer weiter abrückte von seiner vollkommenen Loyalität, war er misstrauisch geworden. Er roch an allen Getränken, an jeglichem Essen, bevor er es zu sich nahm. Die kleinste Ahnung von einem unbekannten Beigeschmack lies ihn von einem Verzehr Abstand nehmen. Er lauschte in sich hinein und wartete auf den Hauch eines unbekannten Echos. Obwohl er noch nie zu jemandem über seine Zweifel gesprochen hatte, fühlte er, dass man darüber Bescheid wusste und längst an Gegenmaßnahmen arbeitete. Aber vielleicht war das ja alles Einbildung, eine Folge der Anspannung, die seine Jobs mit sich brachten.
    Er war sich nicht sicher, wie weit der Arm des Geheimdienstes reichte. Er wusste nur, dass es keine Skrupel gab. Er hatte es selbst miterlebt, Kollegen, die in einen Hinterhof geführt wurden und nie mehr zurückkehrten, liquidiert, ohne jegliches Aufsehen. Moral war sicher keine Antriebsfeder des Dienstes, für den er arbeitete. Auf der anderen Seite gab es groteske Pannen, absurde Ziele, die auf absurde Weise verfolgt wurden. Es erinnerte ihn an die Räuber- und Gendarm-Spiele in seiner Kindheit. Aber was wirklich geschah, wusste auch er nicht.
    Die Operation, für die man ihn jetzt nach Berlin geholt hatte, wirkte auf ihn wie eines dieser absurden Manöver. Letztlich wusste er aber nicht genau, worum es ging. Er hatte nur eine vage Ahnung. Aber wenn diese Ahnung richtig war, ging es um ein widerwärtiges Spiel, ging es darum, die letzten Regionen menschlicher Freiheit für immer zu beseitigen. Und er hatte den Auftrag, daran mitzuwirken, blind, denn die Agentur verschleierte auch ihm gegenüber, um was es wirklich ging. Sollte er sich trotzdem daran beteiligen?
    Er hasste sich für diese Überlegungen. Jahrelang hatte er ausgeführt, was man von ihm verlangt hatte, ohne zu fragen. Er wusste, dass es nicht immer die gute Tat eines Pfadfinders war, die er vollbrachte. Aber es war ihm egal gewesen. Er hatte sich

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