Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
oft sogar gut dabei gefühlt und geglaubt, dass er im Namen der gerechten Sache unterwegs war. Seit einigen Monaten hatte sich das geändert. Er hatte unerklärliche Depressionen. Vielleicht auch einfach, weil er älter wurde, weil er jenseits der Vierzig war. Wie sollte er damit umgehen? Hatte es Sinn, jetzt auszusteigen, nach all den Jahren den Gehorsam zu verweigern? Vielleicht würde er dadurch jemanden retten, ein Menschenleben retten oder mehrere. Aber fiel das ins Gewicht? Bei den vielen, die er getötet hatte ohne sie zu kennen und ohne nachzudenken, die er ausgeliefert hatte ohne einen Augenblick zu zögern. Würde das bei einem jüngsten Gericht überhaupt noch ins Gewicht fallen. Er zögerte. Aller Voraussicht nach würde dieses jüngste Gericht nicht nach der üblichen Hollywood Dramaturgie ablaufen, bei der ein Sünder großmütig begnadigt wird, auch wenn er den Weg zur Wahrheit erst im allerletzten Augenblick findet. Also praktisch gesprochen beim Töten des zweimillionsten Opfers die ersten Skrupel spürt und diesen Mord nicht mehr ausführt. In einem Hollywood-Film à la Spielberg oder George Lukas oder Fred Zinnemann oder des Machers von »Pretty Woman« oder von »Der Engel Daniel« oder von einigen anderen dieser absurden Weihnachtsgeschichten würde das sicher für eine Begnadigung und eine Aufnahme in die himmlischen Heerscharen ausreichen. Aber in der Realität war das zu bezweifeln. Trotzdem neigte er dazu, auszusteigen, und fühlte irgendwie eine innere Freiheit dabei. Aber wie sollte er es anstellen. Sie würden ihn töten. Leute wie »Ole«, der bei diesem Auftrag sein Kontaktmann war, würden ihn kaltschnäuzig erledigen, wenn er nicht funktionierte wie vorgesehen. Hatte er überhaupt eine Chance? Er hatte die letzten Jahre nur im Hintergrund gearbeitet, Computer-Arbeit geleistet, Gerüchte gestreut, Informationen lanciert und besorgt, Spuren im Cyberspace verfolgt, Fährten im World Wide Web gelegt. Er war nicht mehr fit genug für den Kampf in der vordersten Linie. Aber vielleicht war es einen Versuch wert?
Sicher konnte er herausfinden, um was es genau ging. Und er hatte Lust dazu, der Agentur eine kleine, wunderbare Überraschung zu bereiten. Wie die Jungs in den Computerspielen, die er spielte, wenn er nicht einschlafen konnte. »Anschlag auf die Columbia High School«, zum Beispiel. Wenn es sein sollte, würde er sich so einen Abgang verschaffen, einen, der Spaß machte. Er war nicht der Typ, der sich aus einem Fenster stoßen ließ, oder den man sang- und klanglos beim Gang über einen Hinterhof von hinten mit einer schallgedämpften Kanone umlegen konnte. Das war nicht sein Ding. Er würde für Zunder sorgen, eine neue Marke auf der High-Score Liste setzen.
* * *
Paul war gerade dabei, die Versuchsreihen der vergangenen Woche auszuwerten, als ein Anruf vom Empfang herein kam. Sarah stand an der Pforte und wollte ihn sprechen. Er sagte dem Pförtner, dass er sie zu ihm ins Labor schicken sollte, und legte auf. Dann speicherte er schnell den Zwischenstand und ging auf die Toilette, um einen Blick in den Spiegel zu werfen. Es sah übermüdet aus, aber sonst ganz präsentierbar. Er fuhr sich mit nassen Händen kurz durch die Haare, um einen frischeren Eindruck zu machen, und ging dann an seinen Schreibtisch zurück. Unterwegs kam ihm Sarah auf dem Gang entgegen, küsste ihn kurz auf die Wange und begleitete ihn dann an seinen Arbeitsplatz zurück.
»Ich fahre schnell den Rechner runter, dann trinken wir in der Kantine einen Kaffee zusammen«, murmelte Paul. Er schloss die Programme und schaltete den Computer aus.
»Kannst Du mich bei Gene Design Technologies ins Labor einschleusen?«, Sarah ließ den Satz wie beiläufig fallen.
»Was meinst du mit ‚einschleusen’?«, Pauls Stimme klang alarmiert.
»Ich muss da rein. Ich muss heraus finden, was da läuft! Ich brauche eine Stunde und ich muss mich dort ungestört umsehen können, ohne dass mir Jack Cruise auf die Finger schaut.«
»Wie kommst du darauf? Es gibt dort nichts zu finden!« Paul wurde unruhig und ging vor seinem Schreibtisch auf und ab. Was Sarah von ihm verlangte, war eine Bedrohung für seine Existenz als Forscher.
»Vielleicht hast du Recht, vielleicht gibt es dort wirklich nichts zu finden, umso besser, aber ich muss da rein. Ich brauch deine Hilfe!«
»Warum?«
»Hier, lies!« Sarah holte die Zeitung mit dem Artikel über den Katana-Mord aus ihrer Umhängetasche und reichte sie Paul.
Paul studierte den
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