Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
aufgestoßen und schlug mit lautem Knall gegen die Wand. Paul hielt den Atem an und erstarrte. Dann spürte er, wie sein Mut langsam in ihm zerbrach und sein Körper in sich zusammen sackte. Der Söldner, der im Türrahmen stand, war nicht allein. Hinter ihm stand ein zweiter, schmächtiger, pseudo-militärisch gekleideter Mann mit einem Schnellfeuergewehr. Die Mündung der Waffe war direkt auf Paul gerichtet.
Paul war klar, dass seine Chancen damit nahezu Null waren.
»Hier, was zu Essen und eine Decke, falls es kalt werden sollte.« Der Mann warf die Decke auf den Boden.
Pauls Gedanken rasten. Gegen zwei Gegner hatte er in dieser Situation eigentlich keine Chance. Aber zugleich war ihm klar, dass er handeln musste. Egal, wie minimal seine Chance war, es war eine Chance – und vielleicht war es seine letzte. Noch konnte er agieren, noch hatte er die Hände frei. Was, wenn man ihm Handschellen anlegte, oder wenn man beschloss, ihn hier unten verdursten zu lassen? Jetzt war seine Zeit. In seiner Imagination ließ er all seine Gedanken in eine endlose dunkle Tiefe stürzen und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf jede noch so kleine Bewegung seiner Gegner.
Als der Söldner sich leicht nach vorne beugte, um die Plastikschale mit dem Essen auf den Boden zu stellen, stürzte Paul sich mit aller Gewalt auf ihn und warf ihn gegen seinen Begleiter. Der schmächtige Mann konnte nicht schnell genug reagieren. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte nach hinten. Im Fallen betätigte er den Abzug seines Schnellfeuergewehrs. Die Gewehrsalve traf seinen Kollegen und zerfetzte ihm die Eingeweide. Die schwere Verwundung ließ ihn wie ein Tier brüllen während er sich auf dem Boden krümmte. Anscheinend war eine Hauptschlagader getroffen. Sehr schnell bildete sich eine große Lache Blut auf dem Boden. Paul spürte einen Impuls, sich um den Sterbenden zu kümmern, fegte den Gedanken aber augenblicklich beiseite. Der Söldner mit dem Schnellfeuergewehr hatte sich wieder aufgerappelt und richtete die Waffe auf ihn. Bevor er jedoch den Abzug betätigen konnte, hatte Paul ihn gepackt. Die Überzeugung, dass er nichts zu verlieren hatte, ließ Paul kompromisslos kämpfen. In seinem Inneren lief dabei derselbe Film ab, den er sich immer imaginierte, bevor er in eine Free-Solo Route am Fels einstieg: Du hast keine Chance. Wenn du das Ding nicht in einem Zug durchziehst, hast du keine Chance. Du wirst sterben. Wenn du nicht in einem Zug, ohne eine Sekunde lang Angst zu haben, durch diesen Überhang steigst, hast du keine Chance! Also tu es! Entweder – oder! Oft hatte Paul dieses Szenario durchgezogen und er hatte immer gewonnen. Und auch jetzt sagte er sich: Du wirst gewinnen! Entweder du steigst da ohne Angst durch, ohne zu zittern, ohne jeden Blick zurück, ohne einen Blick nach unten oder du wirst verlieren! Und er stieg durch. Paul kämpfte um sein Leben. Und die Arme eines Kletterers waren in dieser Situation zwei unbezwingbare Waffen. Das ganze Training hatte sich gelohnt. Er hielt das Gewehr in einem eisernen Griff und drückte den Söldner damit auf den Betonboden. Der Söldner merkte, dass er Paul nicht gewachsen war, und löste seine rechte Hand vom Gewehr, um Paul wegzustoßen. Diesen Moment nutzte Paul sofort. Er riss das Gewehr mit all der Kraft, die er in seine Arme legen konnte, an sich. Und ehe der Söldner reagieren konnte, feuerte Paul eine Gewehrsalve aus nächster Nähe in seinen Brustkorb. Der Söldner war augenblicklich tot. Das Blut, das aus der riesigen Wunde im Körper des Mannes hervorbrach, ließ Paul für eine Sekunde zittern. Es war wie nach dem Durchklettern eines schweren Überhangs. Wenn man es geschafft hatte, fingen die Muskeln unwillkürlich an zu zittern. Dieses Zittern musste man sofort in den Griff bekommen. Und Paul hatte Übung darin. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.
Niemand schien die Schüsse gehört zu haben. Das Untergeschoss musste von den oberen Etagen akustisch verdammt gut abgeschirmt sein. Die Walkie Talkies, die die beiden Toten, an ihre Schultergürtel gehakt, bei sich trugen, waren offline. Es war unwahrscheinlich, dass sie etwas von dem Geschehen übertragen hatten. Paul nahm den Schlüsselbund mit den Zellenschlüsseln, den der ältere Söldner mit einem Karabiner an seinem Hüftgurt befestigt hatte, an sich und wollte sich auf die Suche nach Sarah machen. Nach wenigen Schritten wurde ihm jedoch klar, dass es besser war, zuerst die
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