Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
Vom Netzwerk:
Ufer. Hier hatten sie zusammen am Fluss Jever getrunken und diskutiert. Hier hatten sie in Sprechchören ihre Stimme erhoben und tagelang auf der Straße ausgeharrt für ihre Vorstellung von Freiheit und Gerechtigkeit. Er war sehr jung gewesen damals, Anfang der 80er, vierzehn oder fünfzehn. Bei seinen Eltern zu Hause hatte er sich in dieser Zeit nur noch selten blicken lassen. Stattdessen hatte er sich in besetzten Häusern und Wohngemeinschaften herumgetrieben und die Sponti-Szene von Berlin kennen gelernt – und Chris Schneider, den Star dieser Szene.
    Er konnte sich noch genau an jenen Abend erinnern, als er Chris zum ersten Mal gesehen hatte. Fasziniert von dessen Charisma, hatte er seine Worte wie ein Verdurstender in sich aufgesogen. Chris hatte eine ungeheure Wirkung auf ihn gehabt. Und von da an war er mitgelaufen, auf alle Demonstrationen, jedes Wochenende. Wann immer Chris ihn brauchte, er war zur Stelle gewesen.
    Marks Gedanken drehten sich immer schneller. Was war geschehen? Was war mit ihm geschehen? Er sah auf die grauen Fassaden Kreuzbergs. Überall gab es frisch renovierte Häuser, große erleuchtete Schaufenster, in denen Designer-Klamotten ausgestellt waren. Dieser Stadtteil veränderte sich. In diesem Stadtteil geschah nichts mehr. Die letzten politisch aktiven jungen Leute wurden wahrscheinlich gerade heraus gefegt. Marks Schritte wurden immer schneller. Er hatte das Gefühl, dass alles um ihn herum sich auflöste. Spalten brachen auf in seinem Gesichtsfeld, Häuser und Autos stürzten ineinander. Sein Hirn spielte verrückt, wie sein ganzes Leben verrückt spielte. Schließlich verlor er die Orientierung. Mit letzter Kraft setzte er sich an einer Bushaltestelle auf einen Hydranten und wartete mit geschlossenen Augen, bis der Aufruhr in seinem Hirn sich beruhigt hatte.
    Nach ein paar Minuten fühlte er sich wieder besser. Er stand auf und ging langsam zur nächsten Bushaltestelle, um den Nachtbus zu nehmen.

* * *
    Der Parteitag fand im Velodrom an der Landsberger Allee in Berlin-Prenzlauer Berg statt. Mark hatte die Halle noch nie »live« gesehen. Er hatte nur die Zeitungsartikel rund um den Bau verfolgt und sich wie die meisten Berliner über die Großmannssucht des Bürgermeisters und des Senats geärgert. In der typischen Berliner Gigantomanie und Selbstüberschätzung hatte die Stadt bereits ein Vierteljahr vor der Entscheidung des IOC mit dem Bau der Halle begonnen, die für die olympischen Radrennen vorgesehen war. Das Internationale Olympische Komitee entschied sich dann jedoch für Sydney als Austragungsort für die Olympischen Spiele 2000. Berlin war entgeistert und gekränkt. Seitdem lag das Velodrom mehr oder weniger ungenutzt wie ein beleidigt hingeworfener Diskus in der Landschaft und gab Zeugnis von der gedankenlosen Verschwendung von Steuergeldern. Seit seiner Eröffnung 1999 war das Velodrom die größte Veranstaltungshalle in Berlin. Hauptsächlich fanden hier Veranstaltungen aus dem Sport-, Konzert- und Showbereich statt, sogenannte »Top-Events«. Aber Berlin quoll eigentlich über mit Veranstaltungshallen, für das Velodrom gab es keinen Bedarf. Dass sich Chris Schneiders Partei das Velodrom als Veranstaltungsort für ihren Parteitag ausgesucht hatte, zeigte einmal mehr, dass die Partei ihre Grundsätze über Bord geworfen und den Kontakt zur Basis verloren hatte.
    Als Mark durch den Apfelhain, den der französische Stararchitekt Dominique Perrault mit 450 aus Frankreich importierten Apfelbäumen hatte anpflanzen lassen, auf die Halle zuging, sah er die Metallplatten des Dachs der Halle jenseits des Hains in der Sonne aufleuchten. Das Gebäude wirkte wie eine überdimensionierte CD. Für jemanden, der darauf zuging, war keine Fassade sichtbar, weil das Gebäude in einen aufgeschütteten Landschaftssockel versenkt gebaut worden war. Erst als Mark die Freitreppe erreicht hatte, die zum Halleneingang hinabführte, wurde ihm die gigantische Dimension der Scheibe mit ihren 140 Metern Durchmesser bewusst.
    Zu Marks Verwunderung war der Eingang vollkommen unbewacht. Morgen würde das sicher nicht mehr so sein. Eine Handvoll Sicherheitsleute war damit beschäftigt, eine Reihe von Metalldetektoren und Gepäckscannern zu installieren. Sie würdigten Mark keines Blickes. Ungehindert durchquerte er das Foyer mit seinen Sichtbetonpfeilern und folgte den Wegweisern zum Pressebüro. Unterwegs kam er an ein paar jungen Leuten vorbei, die einen Informationsstand dekorierten. Keiner von

Weitere Kostenlose Bücher