Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
ihnen beachtete ihn. Als er sich im Pressebüro als Journalist vorstellte und um Akkreditierung bat, fragten ihn die Mitarbeiter nur ziemlich desinteressiert, für welche Zeitung er arbeiten würde. Und als er das Magazin »Neue Zeit« als seinen Arbeitgeber nannte, stellten sie ihm ohne weitere Fragen einen Presseausweis aus und trugen ihn in die Liste der akkreditierten Journalisten ein. Der gefälschte Brief, den er mit Hilfe eines aus dem Internet heruntergeladenen Logos des Magazins erstellt hatte und der ihn als freien Journalisten in Diensten des Magazins auswies, interessierte niemanden.
Als er seinen Pressausweis entgegennahm und einsteckte, glitten seine Finger über das Metall der Pistole, die er in der Innentasche seines Jacketts bei sich trug. Unwillkürlich musste er lächeln. Er fühlte sich so gut wie noch nie in den letzten Tagen. Endlich hatte er Klarheit und wusste, wohin sein Weg gehen würde. Nur noch wenige Stunden bis zur Pressekonferenz. Er spürte eine leichte innere Unruhe und eine gewisse Vorfreude. Die Mitarbeiterin des Pressebüros interpretierte sein Lächeln falsch und lächelte ihn ebenfalls an, als sie ihn verabschiedete.
Auf dem Weg zum Ausgang suchte er nach einem geeigneten Versteck für seine Pistole, damit er morgen kein Problem mit den Detektoren kriegte. Er fand schließlich einen Getränkeautomaten, der an einer Wand neben der Garderobe stand, und versteckte die Pistole in der Nische zwischen dem Automaten und der Betonwand. Damit war alles für den morgigen Tag vorbereitet. Als akkreditierter Journalist würde er die nötige Bewegungsfreiheit im Saal haben und konnte sich, ohne Verdacht zu erregen eine optimale Position aussuchen.
Er fuhr zurück nach Kreuzberg und betrat einen türkischen Friseurladen. Morgen würde ein neues Leben für ihn beginnen, und er wollte sich entsprechend darauf vorbereiten. Er entschied sich für einen extrem kurzen Maschinenschnitt, der ihm, wie er fand, das Aussehen eines Mönchs auf der Pilgerschaft gab.
Als er den Friseurladen verließ, fühlte er sich frei und leicht. Es war ein wunderbarer Sommernachmittag. Deshalb beschloss er, einen Spaziergang durch den Zoo zu machen. Je weiter der Tag fortschritt, desto klarer wurde ihm, dass er nicht mehr in seine Wohnung zurück wollte. Diese Wohnung machte ihn krank, sein ganzes Viertel machte ihn krank. Die Spießbürger um ihn herum waren unerträglich. Sie kümmerten sich um nichts, außer um die Verdauung ihrer Hunde oder das verdammte japanische Auto in ihrer Garage. Dieses Auto, das sie jedes Wochenende wienerten. Aber der Stolz auf diese Autos bröckelte langsam. Es breitete sich eine gewisse Nachlässigkeit aus. Mit jedem Tag, den die Arbeitslosigkeit vieler dieser Spießer anhielt, bröckelte ihre Loyalität ihren Konsum-Ikonen gegenüber. Sie wussten instinktiv, dass sie betrogen worden waren. Und langsam kamen ihre Autos herunter, verfielen die Häuser, in denen sie wohnten, erodierten sie selbst wie Gestein. Das Fundament dieser Gesellschaft fing langsam an wegzubröckeln. Diese Umgebung war ihm zuwider. Er musste weg. Das war nicht seine Gegend. Erst wenn er seinen Job erledigt hatte, würde er dahin zurückkehren. Jetzt wollte er sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren. Ein Engel.
Als es anfing zu dämmern, suchte er sich ein Hotel. Mittlerweile hatte er Mitte erreicht. Die Hotels hier waren eher von der gehobenen Klasse. Aber das war Mark jetzt egal. Er trat einfach in die Lobby des ersten Etablissements, an dem er vorbei kam. Der Mann am Empfang war erstaunt über Marks Äußeres, über seine konfuse Art. Und als Mark bar bezahlen wollte, warf er ihm einen indignierten Blick zu. Dieses Ansinnen erschien ihm suspekt. Barzahlungen gehörten in dieser Hotelkategorie nicht zum Ritual. Hier regierten Kreditkarten. Aber schließlich ließ er sich von Mark das Geld für das Zimmer auf den Tresen zählen, etwas peinlich berührt von der plötzlichen, ungewohnten physischen Anwesenheit von Geld in diesen heiligen Hallen. Schnell strich er die 240 Euro in kleinen Scheinen glatt und legte sie mit flinken Händen in die Kasse.
* * *
Paul kauerte in eine graue Decke gehüllt, die er in der Zelle gefunden hatte, neben der Zellentür und wartete. Von Zeit zu Zeit legte er ein Ohr an die Tür und lauschte in den Gang hinaus. Seit man ihn hier eingesperrt hatte, waren rund vierundzwanzig Stunden vergangen, ohne dass etwas geschehen war.
Die Zelle hatte ungefähr die Größe eines Balkons.
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