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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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Lage zu checken, bevor er sich um Sarah kümmerte.
    Er machte kehrt und ging zum Lastenaufzug zurück, der, wie es aussah, die einzige Verbindung nach oben war. Die Aufzugstür stand offen. Die Betriebsanzeige war dunkel. Paul trat in den Lastenkäfig und lauschte. Es war nichts zu hören. Niemand von oben forderte den Aufzug an.
    Paul verharrte bewegungslos und dachte nach. Die beiden Söldner waren tot. Und er hatte jetzt eine Waffe mit ausreichend Munition. Zudem war er in einer relativ komfortablen Position. Von seinem Standpunkt aus konnte er den Zugang zum Untergeschoss kontrollieren. Wenn seine Uhr stimmte, war es jetzt ungefähr 23 Uhr. Vielleicht waren ja die beiden Männer, die er umgelegt hatte, die einzigen, die nachts auf dem Gelände waren. Aber zwei Leute erschienen ihm ein bisschen wenig als Nachtbesatzung für ein derart großes Gelände. Dort oben musste also noch jemand sein. Angesichts dessen machte es keinen Sinn, mittendrin stehen zu bleiben. Eine Free-Solo Route musste man immer in einem Zug durchsteigen bis zu einem sicheren Standplatz, der einem die Möglichkeit gab, zu entspannen, sich zu sammeln und neue Entschlossenheit aufzubauen. Man durfte auf keinen Fall mitten in einer schweren, ausgesetzten Passage stehen bleiben. Das kostete zuviel Kraft, zuviel Moral. Und er hatte noch keinen sicheren Standplatz, das spürte er.
    Dass von oben kein Laut zu hören war, beunruhigte ihn von Minute zu Minute mehr. Irgendjemand dort oben musste die Schüsse doch gehört haben. Durch die offene Aufzugstür konnte der Schall ziemlich ungehindert nach oben dringen. Andererseits, wenn jemand die Schüsse gehört hatte, dann würde er bestimmt nicht so wahnsinnig sein und mit dem Lift nach unten kommen. Aber vielleicht gab es ja noch einen anderen Weg nach unten. Schon allein aus Sicherheitsgründen musste es noch einen anderen Weg geben.
    Paul sah sich um. In einer Nische, etwa fünf Meter links vom Lastenaufzug, gab es ein kleine graue Stahltür, oder besser eine Klappe. Sie erinnerte eher an den Ausstieg eines Bunkers oder an den Notausstieg eines U-Boots denn an eine Tür. Paul stellte sich gegenüber der Stahltür auf und wartete. Nichts geschah. Seine Position gefiel ihm nicht. Er überlegte, von wo aus er den verschiedenen möglichen Szenarien am besten begegnen konnte, und positionierte sich schließlich direkt hinter der grauen Klappe. Von dort aus, eng an die Wand der dunklen Nische gedrückt, hatte er den Gang voll im Blickfeld. Aber sicher würden sie dort zuerst suchen. Söldner waren trainiert, in Häuser hineinzugehen. Er hatte es sicher nicht mit ahnungslosen Dummköpfen zu tun. Also war auch diese Position ungeeignet.
    Er nahm sich den Schlüsselbund mit den Zellenschlüsseln vor. Die Schlüssel waren nummeriert. »1 FL, 2 FL, 3 FL, 4 FL...«, war mit schwarzem Filzschreiber auf den Schlüsselköpfen vermerkt. Wahrscheinlich stand das für »1 Front Left«, »2 Front Left« und so weiter. Paul nahm den Schlüssel mit der Aufschrift »2 FL« und probierte, ob der Schlüssel für die zweite Zelle links am Anfang des Gangs passte. Bingo, das Schloss ließ sich ohne Problem öffnen. Paul kauerte sich gleich hinter der Eisentür an die Zellenwand, drückte Tür zu, ohne sie ganz zu schließen und verharrte mit dem Gewehr in Anschlag im Dunkeln. Er hatte noch keine fünf Minuten gewartet, als er plötzlich Lärm und laute Schreie hörte. Im Durcheinander der Stimmen konnte er nur wenige Wortfetzen ausmachen. Es waren derbe englische Flüche mit amerikanischem Akzent, die schnell näher kamen, begleitet vom Lärm schwerer Stiefel, die an seiner Zelle vorbei den Gang nach hinten liefen.
    Jetzt setzte Paul alles auf eine Karte. Er stieß die Tür auf, sprang in den Gang und feuerte. Er blieb auf dem Abzug, bis das Magazin leer war. Dann nahm er Deckung hinter der stählernen Zellentür, um nachzuladen. Es war nicht mehr notwendig. Im Gang lagen vier weitere tote Söldner. Ihre Körper waren vollkommen regungslos. Das Blut, das in großen Mengen aus den zerfetzten Leibern quoll, zeigte Paul, dass die Gefahr vorbei war. Das Schnellfeuergewehr leistete verdammt gute Arbeit. Paul mochte sich kaum vorstellen, was geschehen wäre, wenn es der junge Söldner geschafft hätte, eine Salve auf ihn abzufeuern.
    Aber jetzt war nicht die Zeit, nachzudenken, was gewesen wäre. Paul drehte sich um und rannte zum Lastenaufzug zurück. Alles war unverändert bis auf die graue Stahltür in der Nische neben dem Aufzug.

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