Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
verunsichert. Vor ein paar Tagen hatte man ihm einfach einen neuen Interview-Partner zugewiesen, ohne jede Vorankündigung und ohne Erklärung. »Felix Halsch, ich bin ab heute Ihr Gesprächspartner. Dr. Langer hat uns leider verlassen«, hatte sich der neue lakonisch vorgestellt und sich in den Drehsessel gesetzt, den bis dahin immer Dr. Langer benutzt hatte. Mark hatte völlig perplex reagiert und sich sofort innerlich zurückgezogen. Der Neue hatte bei den letzten Terminen alles getan, um die Situation zu entspannen, aber vergeblich. Mark reagierte nicht darauf, auch nicht, als Halsch es mit immer provokanteren Fragen versuchte. Halsch war einfach nicht sein Typ, er konnte nichts mit ihm anfangen, fand ihn unnahbar und irgendwie glatt.
Dr. Langer hatte er gemocht. Bei ihm hatte er sich während der Interviews oft sogar wohlgefühlt, auch wenn die Konfrontation mit seiner Vergangenheit nicht einfach für ihn war und ihn oft stark aufwühlte. Noch Tage nachdem er mit Dr. Langer gesprochen hatte, träumte er von lange zurückliegenden Zeiten. Er sah jetzt seine Vergangenheit in einem ganz neuen Licht. Vieles war ihm klar geworden. Er war einfach immer zu weich gewesen, hatte sich alles bieten lassen. Schon in der Schule hatte man ihn deshalb als Fußabtreter benutzt. Er hatte sich nie gewehrt.
Er erinnerte sich mit Grauen an das erste Skilager. Damals war er elf oder zwölf gewesen, am Beginn der Pubertät. In der ersten Nacht hatten sich ein paar seiner Klassenkameraden ins Dorf geschlichen und hatten sich Bier besorgt. Als sie zurückkamen, hatte er bereits in seinem Etagenbett gelegen und versucht, einzuschlafen, ein willkommenes Opfer in der Langeweile des Lagers. Sie hatten angefangen, ihn zu hänseln, hatten ihn gefragt, ob er denn schon einen Steifen kriegen könnte. Er hatte geschwiegen und gedacht, so könnte er am besten davonkommen. Ruhig sein und den Kopf einziehen, das hatte er zu Hause gelernt. Aber die Jungs hatten nicht locker gelassen, entschlossen, sich einen Spaß zu machen.
»Der hat bestimmt einen ganz winzigen krummen«, hatte Florian gelacht und versucht, ihm die Decke wegzuziehen, die er krampfhaft festhielt. Florian war der Sohn eines reichen Bauunternehmers und glaubte sich deshalb berechtigt, immer die erste Geige zu spielen.
»Na, zeig ihn uns doch!«, hatte Walter sich sofort drangehängt. Er machte immer alles mit, was Florian anfing.
Er hatte Angst bekommen und versucht, seine Kameraden zu beschwichtigen: »Wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst, schrei ich!«
Darauf hatten die anderen nur gewartet. »Was willst du, schreien willst du? Nach Papi und Mammi rufen?«, hatte Florian herausfordernd gemeint und sich neben ihn auf den Bettrand gesetzt.
»Glaubst du, dass das so einfach geht?« Damit war Walter näher gekommen und hatte sich auf die andere Seite des Betts gesetzt.
»Du willst uns also verpetzen?«, hatte Florian ihn weiter unter Druck gesetzt. »Ich zeig Dir gleich, wer hier wen verpetzt!« Damit hatte er Mark an der Brust gepackt, aus dem Bett gezerrt und gegen den Bettpfosten gedrückt. »Walter! Bind ihm die Arme fest!«
Walter hatte einen Augenblick gezögert. Das ging ihm irgendwie doch zu weit. Dann aber hatte er seine Bedenken verworfen, sich ein paar der Lederriemen geschnappt, mit denen normalerweise die Skier zusammengebunden wurden, und ihm die Arme nach hinten gebogen, um ihn an den Bettpfosten zu fesseln.
Er hatte einen Schrei ausgestoßen, aber Florian hatte ihm sofort die Hand auf den Mund gepresst und gedroht: »Das würde ich mir an deiner Stelle überlegen, sonst schneid ich Dir deine Eier ab!«
»Spinnt ihr jetzt, hört sofort mit dem Quatsch auf!«, hatte sich Helmut eingemischt, der ebenfalls schon in seinem Bett gelegen und gelesen hatte.
»Du hältst dich da raus!«, hatte ihn Walter angeschnauzt. »Oder du kannst ihm gleich Gesellschaft leisten!« Dann hatte er ein Handtuch genommen und ihm damit den Mund zugebunden.
»Jetzt wollen wir doch mal schauen, was der Kleine für ein schrumpeliges Ding in der Hose hat!« Florian hatte ihm langsam die Unterhose herunter gezogen. »Ei, ei, ei, ich kann ihn kaum sehen, so ein hässliches kleines Ding!«
Er hatte sich unendlich geschämt und schließlich angefangen zu weinen.
»Lügner seid ihr, verdammte Lügner, das interessiert euch doch einen Dreck, solange ihr eure Kohle einschieben könnt!«, schrie Mark laut und wachte aus seinen Gedanken auf. Er stand vor dem Schaufenster eines Kaufhauses und
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