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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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starrte auf einen Fernsehmonitor in den Auslagen. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierher gekommen war, so versunken war er in seine Erinnerungen.
    Der riesige Flachbildschirm im Schaufenster zeigte in extremer Nahaufnahme das Gesicht des SPD-Vorsitzenden. Es wirkte wie eine abstoßende Fratze. Warum nur merkte niemand, wie korrupt dieser verdammte Ex-Lehrer und Möchtegernpolitiker war? Mark spürte Hass und unendliche Hilflosigkeit. Er wusste nicht, wie er die Kohle für die nächste Woche auftreiben sollte, und diese Politikerfratze versuchte, ihm zu erklären, dass alles nur ein Problem der Stimmung sei. »Die Lage ist besser als die Stimmung!« Scheiße!
    Er drehte sich um und sah direkt in den gleißenden Halogenstrahler eines Baukrans. Geblendet drehte er den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass er auf dem Alexanderplatz gelandet war. Komisch, das war nicht sein Weg, der Alex lag nicht auf seinem üblichen Nachhauseweg, nicht im Geringsten. Wie immer lungerten allerlei Verlierer der Gesellschaft herum, Außenseiter, Harz IV Junkies, Sozialhilfeempfänger, Verwirrte und Möchtegernpropheten, die nach ein paar Dosen Becks die Scheiße aus ihrem Hirn quetschten und sie zur Offenbarung erklärten. Der Papierkorb neben ihnen quoll über vor Dosen.
    Mark schlich sich seitlich an der Gruppe vorbei und überquerte den Platz. Eine einsame Gestalt am Rand des Platzes zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es handelte sich um einen elegant gekleideten, hochgewachsenen Mann von Anfang Fünfzig, der eine schwere Aktentasche über der linken Schulter trug, die in ihrer Unförmigkeit so gar nicht zu seiner sonstigen Erscheinung passte. In der rechten Hand schwenkte er wie ein Prediger ein Buch, energisch gegen den Himmel gereckt, obwohl weit und breit niemand war, der diese dramatische Geste hätte registrieren können.
    Mark wurde neugierig und ging langsam auf den Mann zu. Wenige Schritte vor ihm blieb er stehen und wartete. Aber zu seinem Erstaunen reagierte die Gestalt nicht auf seine Anwesenheit. Minutenlang stand Mark da und starrte den seltsamen Prediger an.
    »Wir alle wollen leben mit ungeheurer Gier, aber wir alle sind verdammt zu sterben. Und je größer unsere Gier, desto unwiderruflicher unsere Verdammnis. Die ganze Menschheit wird vom Erdboden verschwinden bis die Weissagung der großen Schwester erfüllt ist.« Der Prediger hob das Buch in seiner Rechten zum Nachthimmel. Und Mark fühlte, dass seine Worte nur für ihn bestimmt waren. Er konnte sie ganz tief in seinem Inneren spüren.
    »Dann wird Gerechtigkeit sein und sie wird herrschen. Es werden wenige Auserwählte sein, die bestimmt sind, ihren Weg zu bereiten. Meine Augen sehen sie bereits, denn sie sind unter uns und ihre Tage werden kommen.« Der Prediger ließ die Worte verklingen. Dann kam er mit fast tänzerischen Schritten auf Mark zu, öffnete seine Aktentasche und gab Mark eine Visitenkarte in die Hand. »Ich hab dich gehört, vorhin. Ich verstehe deine Wut. Aber bald wirst du begreifen, dass diese Wut deine Kraft ist. Wenn du mal mit jemandem reden willst, der so denkt wie du, dann schau vorbei!«
    Mark blickte voller Erstaunen auf die Visitenkarte. In diesem Augenblick wandte sich der Prediger von ihm ab und verschwand mit eiligen Schritten in der Dunkelheit. Mark drehte das Kärtchen ins Licht. »Dr. Peter Nueger« stand in der Mitte der Karte und darunter klein gedruckt: »If they’re running and they don’t look where they’re going I have to come out from somewhere and catch them. That’s all I’d do all day. I’d just be the catcher in the rye.« Links darunter eine Adresse in Berlin Mitte und eine Internet-Adresse: »www.otherworld.com«. »If they’re running and they don’t look…«, Mark las die Zeilen wieder und wieder. Er kannte diese Sätze. Sie stammten aus seinem Lieblingsbuch »Der Fänger im Roggen«. Wie konnte dieser Fremde wissen, wie sehr er dieses Buch liebte, wie sehr er diese Zeilen liebte. Er fröstelte und spürte eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen. Irgendetwas ging mit ihm vor, etwas, das er nicht verstand und das ihm Angst machte. Er musste unbedingt mit Dr. Langer sprechen, sofort, vielleicht konnte Dr. Langer ihm helfen.
    Ohne links oder rechts zu sehen, lief er über den Alex und drängte sich an den Menschen vorbei in den S-Bahnhof. Nach ein paar Minuten hatte er endlich ein freies Telefon gefunden und tippte die Nummer von Dr. Langer in den Buchstabenblock.

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