Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
hupte, streckte den Kopf aus dem Seitenfenster, schrie etwas Unverständliches und blendete wütend die Scheinwerfer auf. Die Gestalt in der Auffahrt wurde in grelles Licht getaucht. Der weiße Schal, den der Mann lässig über dem offenen Mantel trug, strahlte im Scheinwerferlicht, sein wirres Haar mit weißen und grauen Strähnen bauschte sich über dem Hemdkragen. Paul hatte seinen Vater gefunden.
Der unerwartete Auftritt ließ Paul in seiner Bewegung innehalten. Er stand wie erstarrt da und beobachtete, wie sein Vater das Spiel wiederholte. Ehe der Fahrer Gas geben konnte, lehnte er sich ins Seitenfenster und begann mit dem Fahrer zu reden. Der betätigte den elektrischen Fensterheber und gab Gas. Sein Vater stoppte den nächsten Wagen, als wäre das ganze ein Videospiel, das angefangen hatte, ihm Spaß zu machen.
Paul erwachte aus seiner Erstarrung, rannte die paar Meter zu seinem Vater hoch, legte die Arme um ihn und zog ihn aus der Schusslinie. Die Motoren heulten auf, und die Fahrzeugschlange setzte sich wieder in Bewegung. Hunderte neugierige Blicke starrten durch die spiegelnden Seitenscheiben der vorbeifahrenden Autos auf Paul, der am Rand der Auffahrt auf seinen Vater einredete.
Es dauerte ein paar quälende Minuten, bis sein Vater ihn erkannte und wieder wusste, wer er war. Wie er in das Parkhaus geraten war, konnte er ihm nicht erklären. Er hatte gesucht, den Ausgang gesucht. Und er fantasierte von einem Auto, das er nicht mehr finden konnte. Wahrscheinlich vermengte sein Gehirn ohne jede Abgrenzung die Erinnerungen an frühere Aufenthalte in Parkhäusern mit dem aktuellen Geschehen.
Paul fragte, was mit dem Handy los sei, warum er es ausgeschaltet habe. Aber sein Vater konnte ihm keine Antwort geben. Er begann nur hilflos und immer fahriger, in seinen Taschen zu suchen, aber das Mobiltelefon war verschwunden, wie schon einige vor ihm. Paul hatte in den letzten Monaten mindestens sieben neue Handys besorgt. Mobiltelefone vergessen war eines der größten Talente seines Vaters.
Inzwischen hatte sich die Fahrzeugschlange aufgelöst. Nur noch vereinzelt fuhren Fahrzeuge an ihnen vorbei, als sie langsam zum Ausgang gingen. Paul fühlte, wie sich allmählich eine angenehme Ruhe in ihm einstellte, die sich auf der Fahrt nach Hause immer weiter ausbreitete. Komisch, immer wenn er mit seinem hilflosen Vater zusammen war, fühlte er sich von Stunde zu Stunde mehr geborgen. Ein solches Gefühl der Verbundenheit ihm gegenüber hatte er noch nie zuvor in seinem Leben verspürt. Vielleicht war es gerade die Unmöglichkeit einer komplexen verbalen Kommunikation, die eine solche Nähe möglich machte.
Er schaltete den CD-Player ein und entschied sich für Carmen, eine Oper, von der er wusste, dass sein Vater sie früher sehr geliebt hatte.
* * *
»Ich weiß gar nicht so recht, warum ich Sie gebeten habe, vorbei zu kommen«, gab Kommissar Revelli ohne Umschweife zu. »Ich hoffe Sie sind mir nicht böse. Der Fall ist eigentlich für mich abgeschlossen, fürs erste jedenfalls.«
Sie sah ihn erstaunt an und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Der Kommissar hatte ihren Blick registriert, wahrscheinlich auch erwartet, und fügte hinzu: »Ich habe Sie kommen lassen, weil ich glaube, dass ich Ihnen das schuldig bin, dass ich Ihnen helfen kann.«
Er ging zu einem grauen, zweitürigen Metallschrank und holte eine Dose mit Keksen aus dem obersten Fach, stellte sie vor Sarah auf den Schreibtisch und meinte: »Bedienen Sie sich, wenn sie Gusto haben.«
»Danke«, sagte Sarah vollkommen ausdruckslos und machte nicht die geringsten Anstalten zuzugreifen. Sie dachte nicht im Entferntesten daran, in Gegenwart von Revelli zu essen. Für diesen »Workshop« war sie noch nicht reif.
»Kaffee?«, fragte Revelli und griff nach einer gelben, leicht vergilbten Plastik-Thermoskanne, die auf einem in die Jahre gekommenen Blechtablett stand, das mit einem Sonnenblumen-Muster verziert war.
»Ja, gern«, sagte Sarah, wobei ihr auffiel, dass es eher wie ein »Oh Gott« klang, weil Sie sich nicht vorstellen konnte, dass diese vergilbte Kanne trinkbaren Kaffee enthalten könnte. Aber zu ihrer Überraschung duftete es richtig gut nach frischem Kaffee, als der Kommissar eine Tasse voll vor sie hinstellte.
Revelli hatte den Unterton in ihrer Stimme bemerkt und richtig gedeutet. »Ich bin Kaffee-Fetischist, müssen Sie wissen. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, der Kaffee ist frisch. Wissen Sie, die Verwaltung
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