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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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den Geschlechtsverkehr an der Leiche seiner Freundin vollzogen zu haben. Eine Reaktion, die Kommissar Weber nicht überraschte. Sex mit Toten war eine große Tabuverletzung, die von den Tätern meist bis zuletzt geleugnet wurde. Was ihm mehr zu Denken gab, war, dass Jochen keinen Versuch machte, eine andere Erklärung für das Sperma anzubieten. Die Untersuchungen an der Leiche hatten auch keinerlei Hinweis darauf erbracht, dass das Opfer in der Nacht vor dem Mord sexuellen Verkehr mit einem anderen Mann gehabt hatte, was Jochen als Grund für seinen Eifersuchtsmord angegeben hatte. Aber gut, für das Fehlen dieser Spuren gab es eine ganze Reihe von möglichen Erklärungen. Sie hatten Jochens Geständnis und mit großer Sicherheit war er auch der Mörder. Damit gab es eigentlich keinen Grund mehr, weitere Detailermittlungen anzustellen, die den Fahndungsapparat beanspruchten und zusätzliche Steuergelder kosten würden, aber wohl kaum noch wesentliche Resultate erbringen würden. Deshalb stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren ein.
    Seinem Naturell entsprechend hätte Kommissar Weber sich gerne noch weiter in den Fall vertieft, denn es machte ihm Spaß, endlos über Kleinigkeiten nachzusinnen. Vor allem, wenn er einen Täter und seine Tat nicht verstehen konnte, wie es bei Jochen der Fall war. Aber sein Abteilungschef ließ bei der Lagebesprechung keinen Zweifel daran, wie mit dem Fall weiter zu verfahren war. Und Kommissar Weber begann nach dem Mittagsschlaf seinen Abschlussbericht zu schreiben, obwohl es ihn in den Fingern juckte.

* * *
    Die kleine Fokker 100 war bis auf den letzten Platz ausgebucht. Kaum hatte sie die Kabine betreten, nahm sie einen penetranten Geruch von abgestandenem Schweiß wahr. Sie hätte am liebsten sofort alle Fenster aufgerissen und ein paar Stunden durchgelüftet. Als ihr klar wurde, dass das in einem Flugzeug unmöglich war, dachte sie einen Augenblick daran, wieder auszusteigen und die 77 Euro für das Ticket in die Tonne zu kicken. Aber sie hatte um 11 Uhr einen Termin beim Nachlassgericht in Berlin und sie hatte keine Lust, sich den Heckmeck, den es gekostet hatte, diese »Audienz« zu bekommen, noch mal anzutun. Also schob sie sich das Headset ihres MP3-Players in die Gehörgänge, warf den Sound an und sagte sich: Eine Stunde wirst du schon in diesem Gestank überleben, Millionen andere haben es vor dir auch geschafft.
    Als sie sich in ihrem abgeschabten Sitz angeschnallt hatte, ließ der Brechreiz langsam nach, sie hatte sich an den Geruch gewöhnt, obwohl sie ihn immer noch wahrnahm. Vielleicht auch nur noch infolge eines kinesiologischen Effekts, denn der schäbige Eindruck, den die Maschine machte, weckte immer wieder die Assoziation an diesen Ekelgeruch.
    Klar, 77 Euro pro Flug, da mussten die Maschinen immer in der Luft sein – immer in der Luft und vollgestopft mit Menschen, da blieb einfach keine Zeit zum Lüften, keine Zeit für das Material, sich zu erholen. Sie stellte sich den unglaublichen Modder vor, der sich in den Filtern der Klimaanlage festgefressen haben musste.
    Ob es in der Wohnung ihres Vaters auch so riechen würde? Schließlich stand die Wohnung schon seit Wochen leer. Bald würde sie es wissen, denn der Nachlasspfleger hatte ihr versichert, dass sie den Wohnungsschlüssel gleich mitnehmen könne. Sie fand es extrem interessant, was sie in Berlin erwartetem, und spürte eine angenehme Spannung.
    Als der Pilot die Triebwerke startete und die Maschine sich mit einem lauten, metallischen Knacken in Bewegung setzte, das sie trotz ihres Headsets mitkriegte, bekam sie Angst. Würde diese geschundene, stinkende technische Kreatur es überhaupt schaffen, sie heil nach Berlin zu bringen? Zum Aussteigen war es zu spät, sie rollten bereits Richtung Startbahn.
    Sie sah sich ihre Mitpassagiere an und versuchte, an deren Gesichtern das Schicksal der nächsten Stunden abzulesen. Waren diese Gesichter die Gesichter von Menschen, die in einer Stunde und fünfzehn Minuten tot sein würden, denn das war die prognostizierte Flugdauer? Sie begann zu zweifeln, denn in den meisten dieser Gesichter lag eine tiefe Trauer.
    Nicht auf allen Billigflügen war es so, aber dieser Billigflug hatte zum größten Teil die Verlierer der Gesellschaft angelockt. Vielleicht lag das aber auch am Zielflughafen, den die Maschine ansteuerte. Tempelhof lag in direkter Nachbarschaft von Neukölln, das den Ruf einer asozialen Vorhölle von Berlin hatte. Und die Leute im Flugzeug

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