Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
passten perfekt in ein heruntergekommenes Stadtviertel.
Die Frau neben ihr war dürr ohne Ende und trug einen blassgrauen Business Anzug der billigsten Sorte. Einer, der sogar bei C&A bis zum letzten Schlussverkaufstag auf der Ramschstange hängt. Wahrscheinlich wäre dieser Anzug sogar bei der Altkleidersammlung aussortiert worden.
Die Hautpartien, die der Anzug nicht bedeckte, waren völlig schmucklos und hatten eine ungesunde, rotfleckige Farbe. Wahrscheinlich extremer Vitamin- und Bewegungsmangel oder eine tückische Hautkrankheit. Auch im Gesicht trug die junge Frau keine Spur von Make-up. Die Fingernägel waren auf Länge Null gebracht und wirkten schmuddelig. Sarah überlegte, ob das wohl eine Leidensgenossin an der Bulimiefront sein könnte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Dazu war ihre Nebensitzerin einfach zu ungepflegt, das passte nicht.
Die Triebwerke der gequälten Maschine bemühten sich, auf Touren zu kommen und den schrägen Vogel auf Startgeschwindigkeit zu bringen. Erstaunlicherweise schafften sie es. Sarah kriegte die Anstrengungen deutlich mit, denn sie saß voll auf der Tragfläche. In ihrer wachsenden Angst steigerte sie das Tempo ihres Gesichter-Scans. Endlich, da, schräg vor ihr, war ein Gesicht, das den Tod nicht verdient haben konnte. Der junge Mann bemerkte ihre Anspannung und lächelte ihr zu. Sarah atmete durch und lächelte zurück. Gott würde diesen sympathischen jungen Mann nicht bei einem Flugzeugabsturz über den Dächern von Neukölln oder über Ex-Ossi-Land umkommen lassen. Sie lehnte sich einigermaßen beruhigt zurück und schloss die Augen.
Ein paar Kilometer vor Tempelhof packte die kleine Fokker der Landestress. Die Triebwerke rüttelten an den Tragflächen und die Kabine vibrierte. Sarah öffnete die Augen. Ihr Körper wurde zur Rennstrecke für eine Lawine von Stresshormonen. Als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, bekam der blassgraue Business Anzug neben ihr plötzlich einen Anfall und biss mit wilder Energie ein Stück von seinem rechten Daumennagel ab. Damit war der Damm gebrochen. Ohne sich um die Passagiere um sich herum zu kümmern, schob die junge Frau sich zwei weitere Finger in den Mund und begann, sich in den Nägeln zu verbeißen. Am liebsten hätte Sarah sich in den Zwischengang gebeugt und gekotzt. An diesen Nägeln gab es doch nun wirklich nichts mehr zum kauen, rein gar nichts mehr. Schon beim Start hatten sie wie vor Wochen abgenagte Knochen gewirkt.
Sarah war erleichtert, als die Fokker gelandet war und sie endlich die etwas frischere Luft der Ankunftshalle des Flughafens atmen konnte. Tempelhof war lange Zeit das größte Gebäude der Welt gewesen, was den insgesamt umbauten Raum anbelangt. Vielleicht stimmte das auch heute noch, trotz der Twin- und Was-weiß-ich-Towers weltweit. Eine mächtige, schwere Architektur ohne richtige Atmosphäre, bedrückend, fand Sarah. Die kleine Fokker passte sehr gut zu dieser Atmo. Das Café am Ende der Rolltreppe wirkte in dem Bau wie ein Fremdkörper, wie Leben, das da nicht hingehört. Das kleine Reisebüro gegenüber war verwaist, die Regale und Vitrinen leergeräumt. Sarah drückte die Nase an die Scheibe, um besser sehen zu können. Da gab es keine Spur von Geschäft mehr, absolut keinen Hauch von verlockender Fremde. »Adio direkt«, stand in gelber Schrift auf grünem Grund über der Eingangstür. Und darunter: »last minute direkt«. Was für ein Name, der würde auch für eine Partnervermittlung oder eine Trennungsagentur passen, dachte Sarah und machte mit ihrem Handy ein Foto von dem Laden.
Draußen regnete es. Sie hatte keine Lust auf öffentlichen Nahverkehr und nahm das erstbeste Taxi. Ein alter Mercedes mit abgewetztem schwarzen Leder und einem Himmel, der von Zigarettenrauch gegerbt war. Der Fahrer war mürrisch. Das Sprechen fiel ihm schwer und jede Bewegung schien ihn eine ungeheuere Kraft zu kosten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihn zu stören, beschloss aber, das einfach zu ignorieren. Alles besser als Little-Fokker-Schweiß, dachte sie und ließ sich in die Polster sinken. Während das regengraue Berlin an ihr vorbeizog, sinnierte sie weiter ziellos vor sich hin: Mit Zigarettenrauch lässt sich viel ekelhafter Geruch zudecken. Leider ist der Einsatz dieser Waffe mehr und mehr verboten.
Nach ein paar Minuten hatte ihr Gehirn das zielgerichtete Denken vollkommen eingestellt. Sie ließ die nassen Fassaden kommentarlos in sich einsickern und fühlte sich zunehmend
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