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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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allein und deprimiert. Als das Taxi vor dem Nachlassgericht stoppte, konnte sie sich nur mit Mühe aus dem Sitz beamen und die paar Meter zum Eingang zurücklegen.
    An der Eingangstür zum Büro des Nachlasspflegers klebte ein großes gelbes Smiley. Sarah hasste den Aufkleber auf den ersten Blick und war ganz froh, dass der Nachlasspfleger mindestens genauso schlecht gelaunt war wie sie selbst. Das fand sie irgendwie sympathisch. Sie hätte jetzt keinen gutgelaunten, freundlichen Beamten ertragen können.
    Trotz seiner schlechten Laune hatte der Nachlasspfleger aber gute Arbeit geleistet. Ohne jedes persönliche Engagement, aber perfekt. Alles war minutiös aufgelistet. Da sie die einzige lebende Verwandte war, stand ihr das gesamte Erbe zu, auch wenn bis jetzt kein Testament aufgetaucht war.
    Sie musste ein paar Formulare unterschreiben – was sie tat, ohne sie richtig zu lesen. Dann bekam sie die Reisetasche mit den wenigen Habseligkeiten ausgehändigt, die ihr Vater bei seinem Tod bei sich getragen hatte, und einen durchsichtigen Plastikbeutel mit einigen Ausweispapieren und Kreditkarten sowie dem Schlüssel zu seiner Wohnung.
    »Wenn Sie noch Fragen zur weiteren Abwicklung haben, können Sie mich jederzeit anrufen.« Der Beamte gab ihr seine Visitenkarte. »Ansonsten melde ich mich noch mal bei Ihnen, wenn es Neues gibt.«
    Damit war alles gesagt, der Fall erledigt.

* * *
    Das Rot war unvergleichlich, es leuchtete in seinen Augen stärker als jeder Weihnachtsstern. Alles um ihn löste sich auf, versank in Bedeutungslosigkeit. Der ganze Stress der Vorbereitung auf die Bescherung war weggefegt. Paul hatte nur noch Augen für diesen knallroten Bagger, der unter dem Weihnachtsbaum auf ihn wartete. Er konnte es kaum noch erwarten, das ersehnte Geschenk auszuprobieren, und war der erste unter dem Baum, als die Geschenke zur Inbesitznahme freigegeben wurden.
    Durch Drehen an einer kleinen Kurbel an der Gehäuseseite konnte man den Bagger in Bewegung setzen. Der Baggerarm bewegte sich nach vorne und senkte sich Richtung Boden. Dabei öffnete sich die Schaufel und schloss sich wieder. Paul schnappte sich eine Schale mit Erdnüssen vom weihnachtlich gedeckten Tisch, stellte sie auf den Boden und versuchte, die Nüsse mit der Baggerschaufel zu fassen – es klappte. Nach ein paar Minuten hatte er die Schale leer gebaggert. Paul war fasziniert. Was geschah wohl im Inneren dieses Spielzeugbaggers, wenn er an der Kurbel drehte? Wie war es möglich, dass er dadurch Arm und Schaufel bewegen konnte? Er musste unbedingt hinter den Mechanismus kommen und fing an, den nagelneuen Bagger zu zerlegen.
    Was er tat, fiel zunächst niemandem auf, weil alle mit dem Auspacken von Geschenken oder mit Weihnachtsgebäck und Getränken zu Gange waren. Erst als er den Bagger bereits vollständig zerlegt hatte, bemerkte sein Vater, was er getan hatte, packte ihn unsanft am rechten Oberarm, zog ihn mit einem Ruck vom Boden hoch und deutete wutentbrannt auf die Einzelteile des Baggers, die verstreut auf dem Boden lagen. »Was zum Teufel machst du da! Jetzt schau dir an, was du mit dem teuren Bagger gemacht hast! Du wirst den jetzt sofort wieder zusammenbauen! Und wehe, du schaffst es nicht, dann erlebst du dein blaues Wunder!«
    Erschrocken durch den rüden Ton fing er an zu heulen. »Aber ich wollte doch nur sehen, wie er funktioniert…«
    »Das geht dich nichts an! Du baust das sofort wieder zusammen!«, schrie ihn der Vater an.
    Onkel Achim stand vom Tisch auf und versuchte, ihn in Schutz zu nehmen. »Jetzt mach mal halblang, Josef, das ist doch nicht so schlimm. Der Junge wird mal Ingenieur!« Dann wandte er sich ihm zu und sagte sanft: »Gell, jetzt baust du den einfach wieder zusammen und alles ist in Ordnung.« Damit waren die Wogen wieder geglättet und alle feierten weiter.
    Paul setzte sich auf den Boden zu seinem Bagger und fügte die Einzelteile fast ehrfürchtig wieder zusammen. Dabei fühlte er ungeheuren Stolz. »Jetzt weiß ich, wie das funktioniert!«, sagte er sich immer wieder und seine Augen leuchteten.
    Eine Stunde später stand der Bagger wieder da, als wäre nichts geschehen. Kein Teil fehlte, alles war wieder am richtigen Ort – und das Ding funktionierte wie zuvor.
    Onkel Achim fiel es zuerst auf. Er kam zu ihm herüber, packte ihn an den Armen, stemmte ihn bis unter die Decke und meinte laut: »Hab ich doch gewusst, der Junge baut das Ding wieder zusammen. Das wird mal ein Ingenieur! Hab ich euch doch gesagt, schaut

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