Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
handelt. Der eigene Name und die Namen von Lebenspartner und Kindern werden noch erinnert. Essen und Toilettengänge sind noch ohne Unterstützung möglich.
In Stadium 6 treten schwere kognitive Verluste auf. Gelegentlich wird sogar der Name des Lebenspartners vergessen, von dem das Überleben des Kranken abhängt. Aktuelle Ereignisse und Erfahrungen sind nicht mehr bewusst. Die Erinnerung an die Vergangenheit ist nur mehr bruchstückhaft. Die Erkrankten sind sich ihrem Umfeld nicht mehr bewusst und brauchen Unterstützung in Dingen des täglichen Lebens. Der Tag-Nacht-Rhythmus ist häufig gestört und erste Fälle von Inkontinenz sind möglich. Der eigene Name wird ständig wiederholt. Die Unterscheidung zwischen bekannten und unbekannten Personen im persönlichen Umfeld ist gelegentlich nicht mehr möglich. Die Persönlichkeit des Betroffenen ändert sich und emotionale Schwankungen treten auf.
Im siebten und letzten Stadium sind die kognitiven Verluste extrem schwer. Alle verbalen Fähigkeiten sind verloren. Mitunter kommt es zum völligen Verlust der Sprache. Die Erkrankten grunzen nur noch. Hilfe beim Essen und bei Toilettengängen ist unerlässlich, Inkontinenz ist an der Tagesordnung. Es kommt zu einem Verlust der psychomotorischen Funktionen, die Kranken können nicht mehr gehen, nicht mehr sitzen und sind nicht in der Lage, ihren Kopf zu halten. Der Geist ist nicht länger in der Lage, dem Körper zu sagen, was er tun soll.
Paul hatte bereits einen Teil dieser Stadien mit seinem Vater zusammen durchlebt. Jetzt hatte er das Gefühl, dass die Krankheit auf eine neue Stufe zusteuerte. Torsten hatte Recht, sein Vater stand am Übergang vom fünften zum sechsten Stadium. Ein Zeichen dafür waren die emotionalen Schwankungen, die er seit kurzem an seinem Vater beobachtete. Vor einer Woche, als er ihm beim Wieder finden seiner elektrischen Zahnbürste geholfen hatte, hatte sein Vater ihn unvermittelt als Betrüger beschimpft und ihm vorgeworfen, dass er ihn ausrauben wolle.
Paul war bestürzt, so beschimpft zu werden, und reagierte im ersten Moment verärgert. Aber nach einigen Stunden war ihm klar, dass dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, und er fing an, sich daran zu gewöhnen, so wie er sich in den zurückliegenden Monaten an vieles gewöhnt hatte.
Er sah seinem Vater zu, wie er hunderte von Malen in sich versunken den tragbaren CD-Player putzte, mit dem er jeden Tag Musik hörte, und versuchte, keinen Schmerz und keinen Groll mehr über dieses Schicksal zu empfinden. Das gelang ihm manchmal für einige Stunden, auch für den einen oder anderen Tag, aber er hatte auch immer wieder Tage, an denen er alles düster sah. Das ging manchmal so weit, dass er Menschen hasste, denen es besser ging oder von denen er zumindest glaubte, dass sie ein einfacheres Schicksal hatten.
Nur wenn er konzentriert arbeitete, konnte er für eine Zeit vergessen. Aber so sehr ihn seine Arbeit auch faszinierte, er merkte, wie auch er sich veränderte, wie er mit der Zeit verbitterte und nicht mehr an das glaubte, was er tat. Dann erschien ihm die Wissenschaft nur als unfähig und voll von persönlichen Eitelkeiten. Diese verdammte Wissenschaft war so eingebildet und hatte es dabei in mehr als 100 Jahren nicht geschafft, diese Krankheit zu heilen.
Es gab nur noch wenige Stunden, in denen er sich frei fühlte. Wenn er im Fels hing, die Sonne auf seinem Rücken spürte und gegen Schwerkraft und Angst kämpfte, war alles vergessen, aufgelöst. Deshalb liebte er das Klettern so stark wie niemals zuvor. Es gab ihm die Energie weiterzumachen und für einige Stunden hatte er das Gefühl, wieder lebendig zu sein. Für Stunden hatte er wieder Zuversicht.
* * *
Diese Pracht in dieser Einsamkeit. Was für ein Glaube gehört dazu, diese Pracht zu schaffen aus all der Ärmlichkeit, dachte Sarah, und fand den Gedanken im selben Augenblick, in dem sie ihn dachte, kitschig, und trotzdem bekam sie eine Gänsehaut davon. Sie stand gerne vor dieser mit Gold verzierten Madonna, die neben dem Eingang zum Salzbergwerk hinter einem verrosteten Gitter unter einem makellos weiß getünchten Gewölbe erstrahlte.
Wahrscheinlich hatten die Arbeiter des seit fast einem Jahrhundert stillgelegten Bergwerks diesen kleinen Altar einst errichtet, um davor zu beten. Der Weg ins Tal war weit, und wenn es Winter war, sicher oft unpassierbar.
Jetzt war das Bergwerk verlassen. Die gelben Häuser hatten neue Blechdächer und eine der Außenwände war mit
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