Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
Vom Netzwerk:
einem verrosteten Drahtnetz und ein paar Baumstämmen notdürftig gegen Einsturz abgesichert. Eine Tafel am Eingang zu dem Häuser-Karree deutete darauf hin, dass hier ein Museum entstehen sollte. Aber es hatte den Anschein, als hätte man den Gedanken schon vor längerer Zeit wieder aufgegeben. Nur noch ab und zu war ein einzelner Arbeiter am Werk, um das bisher Erreichte vor dem Verfall zu schützen.
    Im Winter waren die Bedingungen hier auf 1840 Meter Höhe menschenfeindlich. Dann war ein Überleben ohne Unterkunft nur für eine begrenzte Zeit möglich, wenige Stunden, solange man Kraft hatte, sich zu bewegen. Die Schweizer Bergwacht hatte deshalb in einer kleinen Kammer gleich neben der Kapelle ein Notbiwak eingerichtet. Es war fensterlos mit einer Matratze auf zwei Holzpaletten und einem kleinen Nachtschränkchen in Form einer leeren Obstkiste, auf der ein Kerzenhalter aus Zink stand, in dem ein Kerzenstummel steckte. In einer Ecke ein alter Wasserkessel und ein angerosteter Esbit-Kocher. Nur das Nötigste, aber lebensrettend bei schlechtem Wetter.
    Sarah hatte das alte Bergwerk gleich in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes in Eriz entdeckt und seitdem kam sie immer hierher, wenn sie keinen Bock mehr auf die Klinik und den damit verbundenen Rummel hatte und in Ruhe nachdenken wollte. Auf diese Weise hatte sie bereits ein paar Nächte im Biwak-Raum verbracht ohne ein Auge zuzumachen.
    Sie war noch nicht so weit. Sie konnte die Therapie jetzt nicht einfach abbrechen. Noch hatte sie Angst davor, wieder allein zu leben und Tage mit nichts anderem als ihrem Horror zu verbringen, Tage, die verloren waren und sie endlos erschöpften. Sie konnte nicht begreifen, warum sie dagegen so machtlos war. Dabei spürte sie es ganz deutlich, wenn ihre Horrorfahrten anfingen. Sie wusste auch, dass sie verloren war, wenn sie den ersten Schritt machte. Aber trotzdem hatte sie immer wieder diese irreale Hoffnung, dass sie jederzeit aussteigen konnte, egal wie oft sie den Weg bis zum grauenvollen Ende durchleben musste.
    Sie hatte Jahre verloren, Jahre, in denen sie nichts zustande gebracht hatte. Jetzt war sie fast 26 und hatte nichts erreicht, suchte noch immer nach einer Richtung. Sie hatte Ausbildungen begonnen und wieder hingeschmissen und sich auf etwas Neues gestürzt. Davon hatte sie endgültig genug. Sie sehnte sich danach, ihr Studium an der Journalistenschule abzuschließen und zu arbeiten, bei irgendeiner Zeitung oder in einer Fernsehredaktion. Und sie sehnte sich nach einer richtigen Beziehung und danach, dass sie fähig sein würde, sie zu leben.
    Aber sie war noch nicht so weit. Deshalb fühlte sie sich von den Ereignissen um ihren Vater überfordert. Vor drei Wochen hatte er aus heiterem Himmel bei ihr angerufen und ihr ein Treffen vorgeschlagen. Und jetzt hatte er sich durch seinen Tod weiter in ihr Leben gedrängt als jemals zuvor. Dazu hatte er einfach kein Recht. Er hatte ihre Mutter verlassen, als sie schwanger mit ihr war, und sich einen Dreck um sie gekümmert. Deshalb hatte er kein Recht, an ihrem Leben teilzunehmen, auch nicht als Toter.
    Sie öffnete die Biwak-Tür und ging ein paar Schritte nach draußen. Die Nacht war klar, und obwohl Sommer war, wehte ein kalter Wind. Nach wenigen Minuten fing sie an zu frösteln und zog sich wieder in die Kammer zurück.
    Sie war nicht verpflichtet, sich um diesen Toten zu kümmern. Egal, wo die Leiche verscharrt wurde. Er hatte sich auch nicht um sie gekümmert. Für sie war er wie irgendjemand, der auf der Straße an einem vorbeiläuft – ein Fremder. Ende.
    Sie kroch in ihren Schlafsack und versuchte, einzuschlafen. Es dauerte lange, bis es ihr endlich gelang.
    Als sie aufwachte, fühlte sie sich ziemlich fertig. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und weitergeschlafen, aber dafür ging es ihr zu schlecht. In der Hoffnung, dass ihr ein bisschen Bewegung gut tun würde, stand sie auf und ging nach draußen. Das Wetter war sonnig und so lief sie ein paar Meter auf dem schmalen Bergpfad Richtung Gipfel. Mit jedem Schritt hatte sie mehr Spaß daran. Als sie schließlich das Gipfelkreuz erreicht hatte und einen Blick auf die umliegenden Berge warf, war alles anders. Sie hatte beschlossen, sich um den Toten zu kümmern. Warum auch nicht, vielleicht gab es ja was zu erben. Sie konnte sich das Ganze ja mal anschauen. Und neugierig war sie in jedem Fall. Dem konnte sie nicht widerstehen.

* * *
    Immer gegen 11 Uhr hatte Kommissar Weber einen Durchhänger. Das war charmant

Weitere Kostenlose Bücher