Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
kam keine Reaktion. Deshalb wiederholte er die Frage noch einmal. »Weiß jemand von Ihnen, welche Beobachtungen gegen eine Informationsspeicherung durch elektrische Prozesse sprechen?«
Niemand konnte eine Antwort geben. Deshalb ergriff Torsten als sein langjähriger Assistent das Wort: »Es ist bei Experimenten nur sehr eingeschränkt möglich, das Gedächtnis durch physikalische Einflüsse zu löschen. Physikalische Störungen, die das Gehirn von außen treffen, wie Schädelverletzungen, Elektroschocks, Narkosen oder Unterkühlung bis zum vollständigen Ausbleiben der Hirnströme, löschen nur Ereignisse, die der Störung zeitlich unmittelbar vorausgehen. Weiter zurückliegende Erinnerungen bleiben unverändert erhalten. Und sehr weit zurückliegende Ereignisse, wie zum Beispiel Kindheitserinnerungen, werden durch physikalische Einflüsse in der Regel überhaupt nicht beeinträchtigt.«
Einer der Neulinge fühlte sich jetzt ermutigt, etwas zur Diskussion beizutragen. »Das ist auch bei Unfällen mit Schädelverletzungen so. Der Verletzte kann sich in der Regel nicht an das Unfallereignis erinnern. Aber Erinnerungen, die weiter zurückliegen, sind durch das Verletzungstrauma nicht betroffen.«
»Genau. Es waren solche Beobachtungen an Patienten mit Schädeltraumata, die zu der Annahme geführt haben, dass es zwei Typen von Gedächtnis gibt, die mit unterschiedlichen Mechanismen arbeiten, das ‚Kurzzeitgedächtnis’ und das ‚Langzeitgedächtnis’«, nahm Paul seinen Vortrag wieder auf.
»Das Kurzzeitgedächtnis kann, wie wir wissen, Informationen etwa eine Minute lang behalten. Es beruht auf physikalischen Phänomenen und arbeitet mit bioelektrischen Vorgängen in Form von zirkulierenden Erregungen in geschlossenen Neuronenkreisen, die deshalb auch durch physikalische Einflüsse gestört werden können. Das Langzeitgedächtnis scheint demgegenüber von den elektrischen Aktivitäten des Gehirns unabhängig zu sein. Die Speicherung von Informationen stellt man sich als eine Art von ‚Spurenbildung’ vor, die auch als ‚Engramme’ bezeichnet werden, also als biochemische Muster im Zentralnervensystem. Beim Menschen sind diese Spuren besonders in den Ganglienzellen der grauen Hirnrinde, des Neocortex, und in den darunter liegenden weißen Fasern des Großhirns zu finden.«
»Informationen, die ins Langzeitgedächtnis übernommen worden sind, haben eine Bewahrzeit von Stunden bis zu Jahren, bei einer außerordentlich großen Speicherkapazität. Besonders die über Jahrzehnte reichende Stabilität des Langzeitgedächtnisses hat in der Wissenschaft zu der Überzeugung geführt, dass das Langzeitgedächtnis in Form biochemischer Strukturmerkmale der Nervenzellen verschlüsselt sein muss, dass also das Gedächtnis auf molekularer Informationsspeicherung beruht.« Er deutete mit dem Lichtzeiger auf den Begriff »molekulare Informationsspeicherung« an der Wand. »Die Neurobiologie geht inzwischen allgemein davon aus, dass die Gedächtnisinformationen biochemisch im Gehirn kodiert sind. Wir haben hier am Institut mit der Entdeckung der Spines nicht unwesentlich dazu beigetragen. Sie können sich das ähnlich wie bei den Erbinformationen vorstellen, die in den Genen biochemisch gespeichert sind. Dass diese Theorie richtig ist, legen auch einige Tierexperimente nah. Bei der Untersuchung von Gehirnen dressierter Tiere sind Unterschiede in der biochemischen Zusammensetzung im Vergleich mit einer Kontrollgruppe nicht dressierter Tiere gefunden worden. Signifikante Unterschiede zeigen sich vor allem bei der Zusammensetzung der Proteine und Nukleinsäuren.«
Pauls Blick schwenkte über die Reihen und blieb bei Sarah hängen, die gerade ihre Beine übereinander schlug, wobei ihr Rock ein klein wenig nach oben rutschte. Sie merkte sofort, dass sie Paul irritiert hatte, und grinste ihn an. »Stimmt, die Gehirne dressierter Tiere sind ein hochinteressantes Feld«, bemerkte sie dann trocken und mit einem unnachahmlichen Unterton, den Paul trotz seiner Irritation einfach sexy fand. »Ich habe das bei der Vorbereitung auf das Meeting gelesen. Man hat bei Fischen eine Beeinträchtigung der Gedächtnisbildung festgestellt, wenn den Tieren Stoffwechselblocker verabreicht wurden, die die Protein- und Nukleinsäurebiosynthese hemmen. Außerdem hat man Experimente durchgeführt, bei denen Gehirnextrakte von dressierten Spendertieren an undressierte Empfänger verabreicht wurden. Diese Experimente deuteten auf die Möglichkeit einer
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