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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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erreichen. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich muss Sie unbedingt sprechen, bitte! Ich probier es morgen noch mal. Es ist wichtig, ich weiß nicht, wie ich… bitte rufen Sie mich zurück… bitte… ich melde mich noch mal…«
    Sie wartete, dass der Anrufer weiter sprach, aber sie hörte nur noch seinen Atem, für ein paar Sekunden, dann war die Leitung tot. Der AB schaltete aus.
    Sie warf einen Blick auf das Display des AB. Die digitale Anzeige signalisierte fünfzehn Anrufe in Abwesenheit. Sie drückte auf die Wiedergabetaste. Der AB spulte zurück und schaltete auf Wiedergabe. Der erste Anrufer hatte nichts hinterlassen. Sie hörte nur, wie jemand atmete und dann auflegte. Der zweite Anrufer hatte eine Nachricht hinterlassen: »Hallo, hier ist Mark, ich muss Sie sprechen, Doc, ich habe Angst, ich weiß nicht mehr weiter. Bitte rufen Sie mich zurück, Sie kennen meine Nummer.« Der AB piepste. Dann spielte er die nächste Nachricht ab. Dieselbe Stimme, drängender: »Verzeihen Sie, dass ich schon wieder anrufe, aber es ist wirklich wichtig. Ich habe Angst, ich habe das Gefühl, ich denke Dinge, die mir Angst machen. Ich merke, dass Dinge mit mir geschehen, die ich nicht mehr verstehe. Das bin nicht ich, ich…« Ende der Nachricht. Dann wieder dieselbe Stimme: »Ich muss mit Ihnen sprechen, unbedingt, sonst kann ich für nichts mehr garantieren… Bitte, helfen Sie mir!« Dann Schweigen. Die nächsten Anrufe waren ohne Nachricht. Sie hörte nur den Atem, sonst keinen Laut. Alle Anrufe kamen von demselben Anrufer. Es musste jemand sein, der wirklich in Schwierigkeiten war.

* * *
    Es war exakt 16:15 Uhr als der letzte Teilnehmer den Seminarraum betrat und seinen Sitzplatz einnahm. Ein gutes Omen für die bevorstehenden Versuchsreihen. Paul legte Wert auf Pünktlichkeit und verabscheute es, wenn seine Studenten zu spät kamen. Vor allem bei den ersten Kick-off-Meetings, in denen die Grundlagen für die folgenden wissenschaftlichen Experimente gelegt wurden, waren Pünktlichkeit und Anwesenheit für alle Seminarteilnehmer Pflicht.
    Neben seinen bewährten Assistenten Torsten und Philipp gab es diesmal zahlreiche Neue im Team, die noch nicht mit allen Facetten der Materie vertraut waren. Deshalb hatte er einen Foliensatz vorbereitet, um alle auf den gleichen Wissensstand zu bringen und die Marschrichtung für die kommenden drei Monate vorzugeben.
    Nach einem kurzen Warm-up, bei dem jeder sich mit ein paar Sätzen vor dem Team vorstellte, begann Paul mit der Einführung. Er stand gerade am Overhead-Projektor und legte den ersten Foliensatz auf, als die Tür aufging und Sarah ihren schwarzen Lockenkopf durch den Türspalt hereinstreckte: »Oh, wie ich sehe, bin ich mächtig zu spät dran! Tut mir leid, aber ich kenne mich überhaupt noch nicht aus hier auf dem Gelände.«
    Paul sah sie irritiert an. Seiner Ansicht nach war die Gruppe vollständig. Er hatte keine Ahnung, wer die junge Frau war, sie stand jedenfalls nicht auf der Teilnehmerliste. Bevor er seine Verwunderung ausdrücken konnte, stellte sich Sarah vor.
    »Ich bin Sarah Langer. Ich weiß, ich bin nicht für dieses Seminar angemeldet, und die Anmeldefrist ist schon lange vorbei, aber ich bin brennend an diesem Thema interessiert und ich kann unmöglich noch ein Semester bis zur nächsten Möglichkeit warten.«
    Paul sah sie ratlos an.
    »Ich bin auch ganz brav und quatsch nicht dazwischen«, fügte Sarah mit einem unnachahmlichen Augenaufschlag hinzu. Paul hatte so viel Charme nichts entgegen zu setzen. Außerdem war ihm die groß gewachsene junge Frau auf den ersten Blick sympathisch. Er wandte sich an Torsten: »Haben wir irgendwo noch einen Stuhl für die junge Dame?«
    Torsten war einen Moment lang völlig perplex. Eine solche Reaktion hatte er von Paul nie und nimmer erwartet. Er blickte Sarah mit großen Augen an. Dann stand er auf, holte einen Klappstuhl aus einem Nebenraum und stellte ihn für Sarah in die vorderste Reihe. Sarah dankte ihm mit einem Lächeln und nahm ohne ein weiteres Wort Platz.
    Paul nahm seinen Vortrag wieder auf und warf als erstes zwei Bilder nebeneinander an die Wand, die sie bei ihren Experimenten zur Langzeitpotenzierung, LTP, aufgenommen hatten, die sie bereits vor einigen Jahren durchgeführt hatten.
    Das linke Bild zeigte einen Ausschnitt aus einer Hirngewebeprobe zu Beginn des Experiments. Deutlich waren die Dendriten einer grün markierten Nervenzelle in extremer Vergrößerung erkennbar. Die dornenartigen Ausstülpungen an

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