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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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‚Datenautobahn’.« Er legte eine weitere Folie über die Folie. Auf der Darstellung kamen neue synaptische Kontakte dazu. »Eine solche ‚Autobahn’ kann über Stunden, Tage, sogar Wochen bestehen bleiben, scheint es, sodass das Gehirn auch auf Folgereize schneller reagieren kann.«
    Er machte eine kurze Pause, um seine Ausführungen wirken zu lassen. »Wir können also mit einiger Berechtigung annehmen, dass Informationen, dass Dinge, die wir lernen, durch morphologische Veränderungen an unseren Nervenzellen im Gehirn gespeichert werden.«
    Er blickte in die Runde. Alle sahen ihn erwartungsvoll an, aber niemand schien eine Frage zu haben. Deshalb fuhr er fort: »Unser nächster Schritt wird es sein, zu zeigen, wie und unter welchen Bedingungen Informationen aus unserem Gehirn wieder gelöscht werden, wie also im weitesten Sinn Vergessen funktioniert. Das ist das Ziel des Projekts, an dem Sie in den nächsten Wochen teilhaben werden.«
    Seine Zuhörer schauten ihn weiter aufmerksam an. »Gibt es Fragen dazu? Wenn nicht…?«
    Sarah beugte sich nach vorn. »Aber es gibt Dinge, die merkt man sich ein Leben lang, die vergisst man nie. Warum werden solche Informationen permanent gespeichert und wie? Und außerdem gibt es Theorien, die behaupten, dass man überhaupt nichts vergisst, dass man alles irgendwie wieder aus den Tiefen des Gehirns hervorholen kann. Wie passt das in diesen Zusammenhang?« Bei den letzten Worten wirkte sie ein kleines bisschen provokativ. Es machte ihr Spaß, Paul herauszufordern.
    »Eine interessante Frage«, nahm Paul den Einwand erfreut auf. »Wir sind leider noch ein ganzes Stück weit davon entfernt, wirklich zu begreifen, wie Erinnern und Vergessen funktionieren. Ich wäre glücklich, wenn wir durch die bevorstehenden Experimente, etwas mehr Licht in diesen großen dunklen Bereich bringen könnten.«
    Ein anderer Neuling stand auf. »Wie sind solche Bilder überhaupt möglich? Wenn ich richtig verstanden habe, sogar in vitro aufgenommen?«
    »Das haben Sie richtig verstanden. Die Bilder sind am lebenden Hirngewebe entstanden. Die moderne Mikroskopie macht das möglich. Wie, werden wir später sehen.« Paul wechselte die Folien auf dem Overheadprojektor aus. Die neue Folie hatte den Titel »Theorien der Informationsspeicherung im Gehirn«. »Ich möchte jetzt kurz auf die gängigen Theorien über die Informationsspeicherung im Gehirn eingehen.« Er machte eine kurze Konzentrationspause bevor er in das Thema einstieg.
    »Wie funktioniert das Gedächtnis, wie sind Erlebnisse und Erinnerungen in unserem Gehirn gespeichert? Das ist immer noch eines der größten Rätsel der Neurologischen Forschung. Bisher zieht die Forschung drei mögliche Arten in Betracht, die ‚strukturelle’, die ‚physikalische’ und die ‚molekulare’ beziehungsweise ‚molekularbiologische’ Informationsspeicherung.« Er deutete mit dem Lichtzeiger auf die drei Begriffe auf der Grafik an der Wand.
    »Eine Informationsspeicherung auf der strukturellen Ebene würde voraussetzen, dass die Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen des Gehirns in Abhängigkeit von neu eintreffenden Informationen verändert werden können. Jeder Speichervorgang würde durch eine entsprechende ‚Neuverdrahtung’ von kompletten Nervenbahnen in einem bestimmten Bereich des Gehirns erfolgen. Eine derartige morphologische Umstrukturierung des Gehirns erscheint nach dem heutigen Wissensstand eher unwahrscheinlich. Die Bildung von Nervenfaserverbindungen im Gehirn ist, wie wir wissen, im Wesentlichen kurz nach der Geburt abgeschlossen. Ich kenne keine einzige Untersuchung mit Hilfe von Elektronenmikroskopen, die einen Umbauprozess der Gehirnstruktur sicher nachgewiesen hätte.«
    »Eine physikalische Informationsspeicherung durch elektrische Prozesse ist aus heutiger Sicht ebenfalls unwahrscheinlich. Der Austausch von Information zwischen den einzelnen Nervenzellen erfolgt zwar durch fortgeleitete elektrische Impulse in einer Impulssprache, die bisher noch nicht entschlüsselt werden konnte, aber es gibt ein paar entscheidende Beobachtungen, die gegen eine elektrische Informationsspeicherung sprechen. Weiß jemand von Ihnen vielleicht bereits, welche Beobachtungen ich meine?«
    Er hatte bemerkt, dass die Konzentration bei seinen Zuhörern absackte, und deshalb beschlossen, diese unvermittelte Zwischenfrage als Wachmacher einzuflechten. Aber kaum einer der Zuhörer hatte die Frage mitbekommen. Außer ein paar erstaunten Blicken,

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