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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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den Dendriten waren klar sichtbar. Auf dem Bild daneben war der gleiche Ausschnitt der Gewebeprobe nach 30-minütiger intensiver Stimulation mit elektrischen Impulsen dargestellt.
    Paul kommentierte die Bilder nicht. Er blickte herausfordernd in die Runde und meinte im Ton eines Fernsehmoderators: »Auf den ersten Blick sehen diese beiden Bilder vollkommen gleich aus, aber sie sind es nicht. Können Sie mir sagen, wo die Unterschiede sind?« Und weil seine langjährigen Assistenten natürlich Bescheid wussten, setzte er noch hinzu: »Die, die bereits wissen worum es geht, bitte ich, sich zurückzuhalten!«
    Es dauerte eine Weile. Aber schließlich hatten die Teilnehmer die Bilder verglichen und herausgefunden, dass einige der dornenartigen Ausstülpungen sich verändert hatten und dass einige Dornen neu hinzugekommen waren. Paul legte eine weitere Folie über das rechte Foto, so dass jetzt zwei rote Pfeile auf die neu hinzugekommenen Dornen zeigten. »Richtig, es sind Ausstülpungen, wir nennen sie auch ‚Spines’, an den Dendriten entstanden, die noch dreißig Minuten zuvor nicht vorhanden waren. Was können wir daraus schließen?«
    Einer der Neulinge hob andeutungsweise die Hand und meinte lässig: »Da die elektrische Reizung im Experiment eine erhöhte Aktivität der Zellen simuliert und sie sich dadurch verändern, könnte man annehmen, dass es beim Behalten oder Lernen von Informationen zu morphologischen Veränderungen an den Nervenzellen des Gehirns kommt.«
    »Richtig. Wir haben die neu gebildeten Spines nach dreißig Minuten erhöhter Aktivität beobachtet. Das legt den Schluss nahe, dass die Neubildungen ein Ergebnis dieser erhöhten Aktivität sind. Wir wussten bereits davor, dass die über 100 Milliarden Nervenzellen unseres Gehirns nicht statisch miteinander verschaltet sind. Jede der Nervenzellen steht über 10 bis 100.000 solcher Spines an den Dendriten mit den Nervenzellen in ihrer Umgebung in Kontakt. Die Kontaktstellen, auch Synapsen genannt, können auf- und abgebaut sowie in ihrer Intensität verstärkt oder abgeschwächt werden. Diese Anpassungsfähigkeit des Gehirns bezeichnen wir auch als Plastizität.«
    Paul legte eine neue Folie mit dem Titel »Plastizität« auf den Projektor. »Durch diese Plastizität kann sich unser Nervensystem an die sich ständig ändernde Umwelt anpassen. Diese Plastizität ist auch die Grundlage für unsere gigantische Lernfähigkeit und unser Erinnerungsvermögen.« Paul ließ den Satz wirken. Dann setzte er scherzhaft hinzu: »Denken Sie daran bitte vor allem auch in den kommenden Monaten, wenn Sie Ihre Beiträge und Arbeiten verfassen.«
    Sein Publikum fand den Scherz nur mit Einschränkungen gelungen, das konnte er unschwer an dem müden Gemurmel erkennen, das im Auditorium aufkam.
    »Ich bin stolz, dass wir hier am Institut weltweit die ersten waren, denen es gelungen ist, diese Veränderungen zu beobachten«, kam er zum Thema zurück. »Wir konnten mikroskopisch eindeutig beobachten, dass Nervenzellen bei Aktivität tatsächlich ihre Gestalt verändern.« Jetzt hatte er seine Zuhörer wieder bei sich. Er konnte die Spannung im Besprechungsraum deutlich spüren. »Im Augenblick gehen wir davon aus, dass die von uns beobachteten Dornen als eine Art Prozessoren am Aufbau von weiteren Synapsen, also von weiteren Verbindungen, zu den benachbarten Nervenzellen beteiligt sind. Wir nehmen an, dass bei einer hohen Reizfrequenz auf der Seite der sendenden Nervenzelle verstärkt Botenstoffe ausgeschüttet werden. Und als Reaktion darauf werden auf der Empfängerseite verstärkt entsprechende Rezeptoren aufgebaut.«
    Er legte eine neue Folie auf den Overheadprojektor. Sie zeigte eine schematische Darstellung von zwei benachbarten Nervenzellen. Die Zelle auf der linken Seite war mit der Bezeichnung »Empfänger« versehen, die auf der gegenüberliegenden rechten Seite war als »Sender« bezeichnet. Eine der Synapsen, über die die beiden Zellen in Verbindung standen, war wie unter einem Vergrößerungsglas dargestellt, sodass die Vorgänge an der Synapse deutlich wurden. Der Botenstoff, als Träger der Information, die von der Senderzelle an die Empfängerzelle übermittelt wurde, war als kleine rote Kügelchen dargestellt. Die Richtung der Übertragung war durch einen Pfeil gekennzeichnet.
    »Durch den Aufbau zusätzlicher Rezeptoren wird die Reiz- und Informationsübertragung verbessert. Die zusätzlichen Kontaktstellen wirken also wie eine Verbreiterung dieser

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