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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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und biochemischen Interaktionen steuern die Reaktionsbereitschaft von Neuronen in extrem fein abgestimmter Weise. Zusätzlich führt die Freisetzung von Neurotransmittern zur Signalübertragung auch zu Veränderungen der Biochemie und der Genexpression des Zielneurons. Dadurch entsteht zusätzlich eine extreme Komplexität, die jedes Gehirn einmalig macht.
    In diesem Dschungel von Neuronen sind bestimmte Areale für ganz bestimmte Funktionen zuständig. Zum Beispiel verarbeiten bestimmte Bereiche der Großhirnrinde in Verbindung mit damit assoziierten Bereichen des Thalamus im Zwischenhirn optische Reize, während andere Bereiche für akustische oder taktile Reize zuständig sind.
    Benachbarte Neurone eines Bereichs haben dabei Kontakt zu benachbarten Neuronen eines angrenzenden Bereichs. Zugleich sind die meisten dieser Areale mit anderen Arealen, die sich an unterschiedlichen Orten im Gehirn befinden, aber von ihrer Spezialisierung her ähnlich sind, zu bestimmten Mustern verknüpft. So miteinander verknüpfte Neurone reagieren gleichzeitig, wenn Reize eintreffen, auf die sie spezialisiert sind. Weit verstreute Areale im Gehirn sind so über mannigfaltige Verbindungswege miteinander verknüpft. Manche dieser Verbindungen verlaufen über mehrere Millionen Axone. Auf diese Weise sind räumlich weit voneinander entfernte Gehirnaktivitäten zu einem integrierten Zusammenwirken fähig. Die spezialisierten Areale können dadurch in einer einheitlichen Reaktion vereinigt werden.
    Durch ihre gigantische Komplexität haben Gehirne eine Eigenschaft, die sie grundlegend von Computern unterscheidet: kein Gehirn gleicht dem anderen. Nicht einmal die Gehirne von eineiigen Zwillingen gleichen einander.
    Jedes Gehirn ist in seiner Struktur ein Ergebnis seiner Entwicklungsgeschichte und der individuellen Erfahrungsgeschichte und damit historisch einmalig und von extremer Individualität. Manche der synaptischen Verknüpfungen ändern sich höchstwahrscheinlich von Tag zu Tag. Bestimmte Zellen ziehen ihre Fortsätze zurück, andere bilden neue, andere sterben, das alles in Abhängigkeit von der ganz speziellen Geschichte dieses einen Gehirns. Ergebnis ist eine individuelle Variabilität. Diese Variabilität beeinflusst drastisch die Art und Weise, wie wir Dinge und Ereignisse erinnern und wie wir auf unsere Umwelt und Mitmenschen reagieren.
    Das größte Geheimnis unseres Gehirns ist jedoch seine Fähigkeit zu dem, was wir Bewusstsein nennen. Mit Hilfe unseres Gehirns sind wir in der Lage, unsere Umwelt zu erkennen und unseren persönlichen Standpunkt in dieser Umwelt zu bestimmen und in Wechselreaktion dazu zu treten. Wir sehen, was uns umgibt, hören die Geräusche des pulsierenden Lebens, orten mit unserem Tastsinn und unserem Gleichgewichtsorgan unsere Position und Lage, und wir sind uns zugleich bewusst, dass wir es sind, etwas, das wir »Ich« nennen, ein Wesen, dem wir einen Namen geben und das wir kennen und lieben, um das wir fürchten, dessen Geschichte wir erleiden, beschreiben und in einem gewissen Umfang beeinflussen können.
    Wenn uns jemand fragt, wer wir sind, können wir ihm in der Regel eine Antwort geben, unseren Namen nennen und ihm sagen, wo wir wohnen. Wir sind uns unserer Person und unserer Geschichte bewusst. Aber wenn wir schlafen, verlieren wir dieses Bewusstsein vollkommen, als wäre es ausgelöscht. In unserem Gehirn ruht eine bestimmte Region dann weitgehend, wie wir dank neuer Verfahren am lebenden Objekt zeigen können. Und mit unserem Erwachen kehrt alles zurück. Wir erinnern uns, wir sind wieder die bewusste Person, die wir vor dem Einschlafen waren und können unsere Geschichte fortsetzen, mit all unseren Erinnerungen, Gefühlen und Ansichten. Es scheint, dass wir auch in Phasen der Bewusstlosigkeit in unserem Gehirn gespeichert bleiben und uns jeden Morgen aufs Neue wieder finden.
    Wie verletzbar dieses filigrane Gewebe der Persönlichkeit und des Bewusstseins war, erlebte Paul jeden Tag neu. Wenn er seinen Vater betrachtete, konnte er beobachten, wie die Krankheit seine Persönlichkeit unaufhaltsam zerstörte, gleichsam langsam und grausam aus dem Gehirn radierte. Mit den Neuronen seines Gehirns erlosch auch die Persönlichkeit seines Vaters für immer. Vergangenheit und Gegenwart verschwanden im Nichts, wie nie gewesen – vorbei. Nichts blieb. Nur eine diffuse Sehnsucht »heimzukommen«, wie sein Vater immer wieder scheinbar sinnentleert vor sich hin sagte. Aber auch diese Sehnsucht erlosch

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