Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
überlegte, was sie davon behalten sollte oder ob sie einfach alles in den Papierkorb werfen sollte, konnte sich aber nicht entscheiden. Deshalb kippte sie einfach den ganzen Inhalt in den Plastikbeutel und vertagte die Entscheidung. Sie stellte die Schublade hochkant neben den Papierkorb und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzublicken.
* * *
Paul hatte die letzten Monate alles getan, um die Situation seines Vaters und damit auch seine eigene nicht wirklich wahrzunehmen. Er war jeder Konfrontation aus dem Weg gegangen. Jetzt drängten die Probleme umso mehr. Er musste sich den Veränderungen im Krankheitsbild seines Vaters stellen und die erforderlichen Dinge in Angriff nehmen, egal wie sehr er das, was notwendig war, auch verabscheute.
Er brauchte Hilfe bei der Pflege. Deshalb musste er sich endlich an die Krankenkasse wenden und nach geeigneten Einrichtungen in seiner Nähe suchen. Er brauchte die Hilfe von ambulanten Pflegediensten und eventuell von ehrenamtlichen Helfern. Dabei konnte ihm vielleicht auch die Alzheimer Gesellschaft behilflich sein.
Zusammen mit seinem Vater musste er auch die notwendigen Vorausverfügungen wie Vorsorgevollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung erstellen und für alle Fälle bei einem Notar hinterlegen.
Auch die Wohnung musste unbedingt umgestaltet werden. Sein Vater hatte vor einigen Tagen zum ersten Mal mitten in der Nacht das Haus verlassen ohne dass er es bemerkt hatte. Er hatte Stunden gebraucht, um ihn wieder zu finden. Zum Glück hatte er bei seinem nächtlichen Ausflug in die Stadt nichts Schwerwiegendes angerichtet. Im Anschluss an diesen Vorfall hatte Paul sich erkundigt, was für Möglichkeiten es gab, um derart gefährliche nächtliche Stadtspaziergänge zu verhindern. Die Liste der Maßnahmen, die in den Informationsbroschüren aufgelistet waren, hatte Paul im ersten Augenblick schockiert. Da war von akustischen Signalgebern oder von chipgesteuerten Schlössern die Rede, die an den Türen installiert werden konnten. Und auch die Fenster sollten zur Sicherheit mit abschließbaren Griffen versehen werden. Alles Maßnahmen, die Paul menschenunwürdig vorkamen, die er aus seiner Erfahrung der letzten Wochen aber mehr und mehr für sinnvoll hielt.
Um die Kranken vor Stürzen zu sichern, wurde empfohlen, Teppiche zu fixieren oder zu entfernen. Türschwellen mussten beseitigt oder eingeebnet werden. An der Treppe waren auf beiden Seiten stabile Handläufe ratsam, die oberste und unterste Treppe musste farblich gekennzeichnet werden. Und weil es bei all dem keine absolute Sicherheit geben konnte, war es sinnvoll, für einen entsprechenden Versicherungsschutz zu sorgen.
Praktisch alles musste umgestaltet werden. Ab einem bestimmten Stadium waren Alzheimer Patienten unberechenbarer als Kleinkinder. Feuerzeuge und Streichhölzer mussten vor ihrem Zugriff sicher aufbewahrt werden, Herde mussten durch automatische Herdüberwachung mit Abschaltautomatik, Gasmelder und ähnliches gesichert werden.
Auch die Installation von Rauchmeldern wurde in den Broschüren als eine sehr wichtige Maßnahme nahegelegt. Um zu verhindern, dass Wasserhähne ohne Ende geöffnet blieben, konnte man automatische Wassersperren einbauen oder den Zugang zu Wasserhähnen und zur Küche einschränken. Alles Maßnahmen, die neben größeren Investitionen auch viel Umsicht erforderten, vor allem, weil einige von ihnen Paul zu weit gingen. Er wollte auf gar keinen Fall die Wohnung in ein Gefängnis für seinen Vater umbauen. Zugleich aber wollte er alles tun, um ihn vor Verletzungen zu schützen.
All diese Maßnahmen und Aufgaben waren für Paul ein Gräuel. Er wäre am liebsten im Boden versunken, als er das erste Mal der Sachbearbeiterin bei der Krankenkasse gegenüberstand und sagte: »Das ist mein Vater, er ist Alzheimerpatient.« Dieses Eingeständnis eines so gravierenden Makels fiel ihm schwer, sagte er damit doch unausgesprochen auch etwas über seine Gene aus, gestand er ein, dass er selbst mit großer Wahrscheinlichkeit auch ein Opfer dieser grausamen Krankheit werden würde und schämte sich für seine Verwundbarkeit und Schwäche.
Die Sachbearbeiterin merkte nichts von alldem. Und wenn sie es merkte, war es ihr egal. Sie sah Paul vollkommen desinteressiert an und bedeutete ihm, sich zu setzen. Dann nahm sie seinen Antrag für die Pflegeversicherung entgegen, überprüfte ihn und legte ihn in eine Ablage. »In drei bis vier Wochen bekommen Sie Bescheid, in welche Stufe Ihr
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