Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
andererseits, vielleicht hatte sie das alles wirklich nur geträumt. Vielleicht hatte ihr Gehirn ihr diese beiden Männer nur vorgegaukelt, um eine Erklärung für den Brand zu liefern und um ihren Schlaf aufrecht zu erhalten. Vielleicht – aber alles war so real gewesen. Wenn sie sich zurückerinnerte, konnte sie sofort wieder den beißenden Rauch riechen und spürte diese salzigen, rauen Hände auf ihrem Mund. Diese Männer mussten einfach existiert haben, egal was die Feuerwehr meinte. Und einer von ihnen hatte versucht, sie zu ersticken. Sie hatte keine Erklärung warum. Aber irgendetwas war nicht koscher an der Geschichte.
Dass sie noch einmal aufgewacht war und es geschafft hatte, aus der Wohnung zu gelangen, war einfach nur Glück gewesen. Und niemand wusste davon. In der Zeitung stand kein Wort von ihr. Auch im Internet hatte sie nicht mehr über den Brand gefunden. Die Feuerwehr hatte ihr keine Fragen gestellt. Der Typ hatte ihre Personalien nur aufgenommen, weil sie den Brand gemeldet hatte. Das war Routine. Er hatte keine weiteren Fragen gestellt. Also wusste niemand, dass sie in der Wohnung gewesen war, und niemand wusste, dass sie überlebt hatte. Das war ein Vorteil. Set, game, match für sie, quasi.
Die Straße wurde immer düsterer und verlassener. Wer zum Teufel brauchte hier in dieser Gegend Neuköllns ein Parkhaus? Sie hatte sich sicher verfahren. Außerdem war die Straße gleich da vorne zu ende. Von einem Parkhaus weit und breit keine Spur. Sie warf ungläubig noch mal einen Blick auf die Rechung, die sie in der Schublade ihres Vaters gefunden hatte. Aber der Straßenname stimmte. Also fuhr sie bis ans Ende der Straße und stieg aus. Und tatsächlich, in der letzten Häuserfront vor der Wendeschleife gab es ein dunkles, von verwitterten Betonträgern umrahmtes Viereck, das an den Eingang zu einem Parkhaus erinnerte. Aber es gab keine Schranke, keinen Ticketautomaten und auch das vertraute blaue Schild über der Einfahrt fehlte. Es gab überhaupt kein Schild, lediglich ein paar schwarze Löcher im Beton legten die Vermutung nahe, dass es mal ein Schild gegeben hatte. Sie ging ein paar Schritte in die dunkle Einfahrt. Alles schien verlassen. Nichts machte den Eindruck, als ob das Ding noch in Betrieb wäre. Rechts vor ihr lag das Kabuff des Parkwächters. Sie warf einen Blick durch die große, mit einer dicken Staubschicht überzogene, Glasscheibe ins Innere. Das Kabuff war nicht besetzt, wirkte aber so, als wäre es noch in Betrieb. Auf dem Schreibtisch gleich hinter der Scheibe lagen auf einer Schreibunterlage ein paar Utensilien. Fein säuberlich aufgereiht und im rechten Winkel zu einem Lineal liegend konnte sie einen Bleistift und drei farbige Markerstifte erkennen. Neben dem Lineal gab es einen kleinen, runden Aschenbecher und ein blaues Plastikfeuerzeug.
Der billige Bürodrehstuhl aus schwarzem Kunstleder war durchgesessen und ging an allen Nähten aus dem Leim. Die blanke Sitzfläche zeigte ihr, dass der Stuhl des Öfteren benutzt wurde. Rechts hinten an der Wand hing eine braune Tafel aus Pressspan, auf die mit schwarzem Filzstift ein Raster gezeichnet war. Ein paar vereinzelte Schlüssel hingen an Nägeln, die in die Tafel geschlagen waren. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis ihr klar wurde, dass der Raster die Verteilung der Stellplätze auf die einzelnen Stockwerke widerspiegelte. Aber was die Schlüssel zu bedeuten hatten, verstand sie nicht, sie sahen nicht wie Autoschlüssel aus.
Auf einem vergilbten, weißen Blechschild, das hinter die Scheibe des Kabuffs geklemmt war, stand: »Garage zu vermieten«. Gleich darüber klebte ein handgeschriebener Zettel, mit dem jemand den Verlust seines Autoschlüssels anzeigte und einen Finderlohn ausschrieb. Ganz links unten an der Scheibe klebte ein in Plastikfolie eingeschweißter Zettel auf dem lakonisch stand: »Hahning, 0179/2462636, anrufen, Mo – Do, 17 – 19 Uhr«.
Sie sah auf die Uhr. Sie hatte Glück, es war 16:35 Uhr und es war Mittwoch, in rund 20 Minuten konnte sie ihr Glück versuchen. Die Zeit bis dahin konnte sie für einen Rundgang durch die Etagen nutzen. Sie ging die Rampe zur ersten Etage hinauf und staunte, die ganze Etage war voller Einzelgaragen. Wo früher augenscheinlich offene Stellplätze gewesen waren, hatte man Schwenkgaragentore aus Blech angebracht, zwischen jedem Pfeiler zwei Tore. Jetzt war ihr klar, was die Schlüssel an dem Brett im Parkwächterkabuff bedeuteten – es waren die Schlüssel für die
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