Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
gearbeitet hätten, wären viele Erkenntnisse niemals erreicht worden. Das wird auch von unseren privaten Geldgebern aus der Industrie berücksichtigt.«
»Glaubst du das wirklich?« Sarah war erstaunt, dass ein Wissenschaftler vom Format Pauls in diesem Punkt über eine ihrer Meinung nach ziemliche Naivität verfügte. »Es wird nur das entwickelt, was sich in Geld umsetzen lässt, da bin ich ganz sicher. Wenn es mehr Geld bringt, eine Krankheit zu behandeln, anstatt einen Impfstoff zu entwickeln, dann wird man sich niemals wirklich auf die Entwicklung eines Impfstoffes konzentrieren, sondern man wird vielmehr alles tun, um die Entwicklung eines Impfstoffes zu verhindern. Zum Beispiel Malaria. Die Medikamente für die Prophylaxe sind ein Milliardenmarkt. Die Pharmaunternehmen wären wahnsinnig, wenn sie sich selbst diesen Markt ohne Not zerstören würden.«
»Wenn es möglich wäre, einen Impfstoff zu entwickeln, würde es auch jemanden geben, der das tut. Denn mit diesem Impfstoff könnte er diesen gigantischen Markt für seine Firma erobern und ein Vermögen verdienen«, hielt Paul dagegen.
»So, meinst du? Und was ist, wenn nicht?«
Paul antwortete nicht.
* * *
Sarahs Laune wurde mit jedem Kilometer schlechter. Auch körperlich ging es ihr richtig mies. Sie hätte schon jetzt am liebsten gekotzt. Dabei waren es noch 200 Kilometer bis nach Hause. Wie sollte das enden? Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt. Aber nach dem Besuch bei Gene Design Tech war es ratsam, für ein paar Tage aus Berlin zu verschwinden. Das machte es schwieriger, sie zu verfolgen.
Komisch. Früher hatte sie sich immer gefreut, nach Hause zu kommen, in die kuschelige Dreizimmerwohnung. Jetzt hatte sie einen richtigen Horror davor. Zu Hause war immer eine eigene Welt gewesen, in der sie sich auch anders verhalten hatte. Zu Hause mit ihrer Mutter war sie eine andere Person, ruhig, liebevoll und umsichtig. Wenn sie eine Zeit lang von zu Hause weg war, veränderte sie sich und ließ ihrer Neugier und ihrer Lust am Spielerischen freien Lauf. Dann war sie offensiv und auch mal schnippisch. Jetzt konnte sie sich nicht mehr vorstellen, wie sie diesen Spagat schaffen sollte. Sie hatte sich in den letzten Wochen zu stark verändert. Berlin hatte sie verändert.
Früher hatte sie immer geglaubt, ihr Vater habe sie verraten. Ihre Mutter dagegen war für sie das Maß aller Dinge gewesen. Sie hatte sie geliebt und bewundert. Und sie war dankbar gewesen für alles, was ihre Mutter für sie getan hatte. Jetzt wurde ihr langsam klar, dass alles Lüge gewesen war. Ihr Vater war nicht das Monster, von dem ihre Mutter ihr erzählt hatte. Wahrscheinlich war er einfach nur hilflos gewesen, war aus Unfähigkeit nicht mit der Situation zurecht gekommen, hatte vielleicht auch einfach nur den bequemen Weg gewählt. Ihre Mutter hatte sie belogen, hatte sie benutzt, um ihr eigenes Leben einigermaßen auf die Reihe zu kriegen. Sie hatte halt auch hier die Arschkarte gezogen. Das einzig Positive daran war, dass ihr das jetzt klar wurde, dass sie einen Teil der Wahrheit in der Hand hatte. Jetzt fehlten nur noch ein paar Teile in dem Puzzle, dann konnte sie endlich die Vergangenheit abhaken. Vielleicht hatte sie ja die Chance, es in ihrem eigenen Leben besser zu machen.
Im Radio lief eine Unterhaltungssendung, die Musik mit kleinen Reportagen aus Schwaben mischte. Mit sanfter Stimme schaltete sich der Moderator ins Programm ein. »Und jetzt kommen wir zu unserer heutigen Quizfrage, liebe Zuhörer. Sie wissen, wer uns als erster mit der richtigen Antwort anruft, kann unseren Bildband über das Leben auf der Schwäbischen Alb im 19. Jahrhundert gewinnen. Unsere heutige Frage lautet: Was ist ein ‚Gstattl’? Was meint man in Schwaben, wenn von einem ‚Gstattl’ die Rede ist? Wer uns die Frage beantworten kann, bitte anrufen unter 0800 7264. Nicht einfach heute, die Frage, ich bin gespannt.«
Ein »Gstattl«? Sarah hatte keine Ahnung, obwohl sie im Schwäbischen aufgewachsen war. Sie hatte sich immer geweigert, Dialekt zu sprechen. Und auch zu Hause mit ihrer Mutter hatte sie nie Dialekt geredet. Ihre Mutter hielt ihre Dialekt sprechenden Schulfreundinnen für unter ihrem Niveau und achtete darauf, dass Sarah möglichst exaktes Hochdeutsch redete.
Ihr wurde immer mulmiger. Ihre Mutter ahnte nichts von all dem, was in den letzten Wochen geschehen war. Sie wusste nicht, dass Sarah mit dem festen Vorsatz kam, in ihren persönlichen Sachen nach Bildern oder Briefen
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