Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
sich entfernenden Schritte im Treppenhaus. Als sie die Haustür gehen hörte, ging sie nach unten.
Die Tür zum Zimmer ihrer Mutter stand wie immer offen. Sie ging hinein und sah sich um. Neben dem Bett ihrer Mutter stand eine kleine Kommode aus Olivenholz. Eine Lampe aus einem großen Salzkristall verbreitete ein schwaches rötliches Licht. Sarah zog die oberste Schublade der Kommode mit spitzen Fingern vorsichtig auf. Ein Stapel Fotos lag inmitten von allerlei Haarklammern und Kosmetikartikeln. Sie blätterte den Stapel durch. Nichts Interessantes. Sie öffnete die anderen Schubladen der Kommode und warf jeweils einen kurzen Blick hinein. Sie wusste nicht genau, was sie suchte, sie wollte sich einfach mal umsehen. Sie hatte das Recht dazu. Ihr Herz schlug bis zum Hals, weil sie das Gefühl hatte, dass sie die Privatsphäre ihrer Mutter zu sehr verletzte. Aber sie hatte ein Recht, die Wahrheit zu erfahren. Während sie weitersuchte, sagte sie sich immer wieder: »Du hast ein Recht darauf, du hast ein Recht auf die Wahrheit!« Aber es gab nichts zu finden. Die Kommode enthielt nichts, was sie nicht schon kannte. Und auch im Bücherregal und in den Schreibtischschubladen gab es nichts von Belang. Sie wollte schon aufgeben, als ihr Blick unter das Bett fiel. Da unten war irgendetwas. Sie ging in die Knie und legte den Kopf auf den Boden. Neben einem Staubsauger stand eine alte Blechschachtel unter dem Bett. Sie hatte früher mal Nürnberger Lebkuchen enthalten. Vorsichtig zog sie die Schachtel unter dem Bett hervor und öffnete sie. Sie enthielt einen Stapel Briefe. Mit zitternden Händen sah sie den Stapel durch. Sie stammten alle vom gleichen Absender. Und es gab keinen Zweifel, um wen es sich handelte. Es war die Handschrift ihres Vaters, die sie in seiner Wohnung in Berlin das erste Mal gesehen hatte.
Sie zog den ersten Brief aus dem Umschlag. Er war von 1991. Einer der letzten Briefe bevor das Zeitalter der E-Mail dieser Kommunikationsform nahezu den Garaus gemacht hatte. Sie lauschte noch einmal ins Treppenhaus, um sich zu vergewissern, dass ihre Mutter noch nicht zurückkam, dann entfaltete sie den Briefbogen.
»Liebe Eva Maria, lass uns noch mal über alles reden. Ich finde es wichtig, vor allem wegen Sarah«, begann der Brief. »Vielleicht können wir eine Lösung finden, die uns…«. Sie kam nicht dazu, weiter zu lesen. Plötzlich hörte sie die Eingangstür ins Schloss fallen und erkannte die Schritte ihrer Mutter im Treppenhaus. Schnell steckte sie den Brief in den Umschlag zurück und legte ihn wieder in die Blechschachtel. Dann stellte sie die Schachtel an ihren Platz unter dem Bett zurück und lief die Treppe nach oben. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Mutter die Tür aufschloss.
Jetzt gab es nicht mehr den geringsten Zweifel. Ihre Mutter hatte sie all die Jahre belogen. Es war alles ganz anders gewesen. Sie ging unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Sie musste nicht mehr weiter lesen. Die paar Zeilen genügten. Sie hatte genug gelesen. Ihr Vater war nicht einfach spurlos verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ihre Mutter hatte ihr all die Jahre ein Märchen erzählt. Hatte sie absichtlich gelogen? Oder konnte sie selbst nicht mehr unterscheiden, was richtig und was falsch war? Musste sie diese Geschichte von ihrem Vater so erzählen, wie sie sie erzählte, um es ertragen zu können? Machte sie sich etwas vor? Glaubte sie selbst an das, was sie erzählte? Wahrscheinlich war das der Fall.
»Sarah, bist du da oben, Schätzchen?«, hörte sie plötzlich ihre Mutter von unten rufen.
»Ja, Mum, ich komme gleich«, antwortete sie und ging langsam nach unten.
Ihre Mutter spürte instinktiv, dass etwas nicht stimmte und sah sie mit forschenden Augen an. »Was ist los mit dir, Schätzchen? Liebes, hast du irgendetwas? Du wirkst so abwesend.«
»Hast du mir etwas verschwiegen, Mum?« Sarah hatte beschlossen, es direkt anzusprechen. »Gibt es da etwas, was du mir verschwiegen hast? War die Geschichte mit Daddy, mit Vater, nicht so, wie du sie mir erzählt hast?«
Ihre Mutter sah sie entrüstet an. »Wie kannst du mir so etwas unterstellen, nach alldem, was wir zusammen erlebt haben? Nach alldem, was ich getan habe, all die Jahre? Ich habe mich ganz allein um dich gekümmert. Und du sagst mir, ich lüge dich an? Das kann nicht sein. Sag mir, dass du das nicht wirklich meinst. Wie kannst du das nur glauben? Wie kannst du nur so etwas von mir denken? Habe ich dir jemals einen
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