Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
das doch gerne, Schätzchen«, sagte ihre Mutter und fing an, die Kaffeemaschine vorzubereiten.
Sarah setzte sich an den Küchentisch und schaute sich um. Auf der Fensterbank stand eine Vase mit einem Strauß vertrockneter Blumen. Überall hingen eingerahmte Fotos auf denen sie mit ihrer Mutter zu sehen war. Neben dem Kühlschrank hing eine Buntstiftzeichnung, die sie mal im Kindergarten gemacht hatte. Darüber eine getrocknete rote Rose, die ihre Mutter von einem Verehrer geschenkt bekommen hatte.
»Du hast lange nichts von dir hören lassen«, sagte ihre Mutter plötzlich mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton ohne sich umzudrehen.
»Ich habe viel zu tun gerade. Es hat lange gedauert, mich in Berlin einzurichten«, entgegnete Sarah und merkte, dass es sich wie eine Verteidigung anhörte, obwohl sie sich bemüht hatte, neutral zu bleiben.
»Ich hätte dir doch geholfen. Ich hab dir angeboten, dass ich dir helfe, aber du wolltest ja nicht.« Der vorwurfsvolle Ton in der Stimme ihrer Mutter wurde schärfer. »Aber du wirst schon wissen, was du tust.«
Sarah bemühte sich, den jetzt offenen Vorwurf zu ignorieren, aber es gelang ihr nicht. »Es ist dir nicht recht, dass ich in Berlin studiere, oder?«, hielt sie dagegen und war erstaunt über die Aggressivität in ihrer Stimme. »Du kannst es mir auch direkt sagen«, setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu und dachte an das, was man ihr in der Schweiz immer wieder gesagt hatte: »Sag das, was du denkst, sprich von dem, was du fühlst.«
»Aber, wo denkst hin, Liebling«, antwortete ihre Mutter wobei sie ihren Ton um 180 Grad in Richtung liebende, verständnisvolle Mama drehte. »Ich vermisse dich halt. Ich bin deine Mutter. Ich habe dich lieb und deswegen vermisse ich dich halt. Jede Mutter möchte ihr Kind bei sich haben, das ist normal.« Sie schenkte Sarah einen Kaffee ein und setzte dann hinzu: »Ich bin immer für dich da. Und ich hätte dir helfen können. Aber klar, wenn du nicht willst. Du bist erwachsen, du kannst entscheiden, was du willst. Und ich muss mich damit abfinden, dass ich keine große Rolle mehr für dich spiele. Es ist dir halt zu langweilig hier bei mir.« Bei diesen letzten Sätzen war ihre Stimme präzise und ätzend, als würde sie jeden Buchstaben in Marmor gravieren wollen.
Sarah wusste nicht mehr, wie sie reagieren sollte, und nippte schweigend an ihrem Kaffee. Nach ein paar Schlucken stand sie auf und packte ihre Reisetasche.
»Ich bring mein Zeug in mein Zimmer und leg mich ein paar Minuten hin. Die Fahrt war doch sehr anstrengend.«
Sie stieg mit schnellen Schritten die schmale Holztreppe zur Galerie der Maisonette-Wohnung hinauf und ging in ihr Zimmer. Alles war unverändert. Seit ihrer Pubertät hatte sich hier oben nichts mehr verändert. Ihr Zimmer war noch immer das kleine verspielte Mädchenzimmer ihrer Kindheit.
Sie stellte ihre Tasche auf das Bett, setzte sich daneben und schaute sich um. Auf der Innenseite der Glastür hing immer noch das Plakat von Robbie Williams, von Take That, für den sie einmal geschwärmt hatte. Auf ihrem Schreibtisch standen zwei Bilder aus ihrer Schulzeit. Das eine zeigte sie an der Seite ihrer Mutter bei der Einschulung. Die gigantische, poppig grüne Schultüte überragte sie um ein Vielfaches. Ihre glatten, langen blonden Haare gaben ihrem Gesicht ein noch schmäleres Aussehen. Sie wirkte ohne Ende zerbrechlich. Ihre Mutter trug nabelfreie Jeans und darüber eine knappe, kurze schwarze Jacke. Mit ihren großen Lippen sah sie herausfordernd und breit lachend in die Kamera.
Das zweite Foto war zwei oder drei Jahre später aufgenommen worden. Sie war immer noch sehr zart und bleich und blickte mit ihren großen braunen Augen melancholisch in die Kamera. Auf ihren übereinandergeschlagenen Knien hielt sie ein großes aufgeschlagenes Buch, wie es damals auf dieser Art Schulfotos üblich war.
Die Stimmung des Zimmers bedrückte sie wie nie zuvor. Ihr wurde klar, dass sie hier nicht mehr zu Hause war, und dass sie hier nie mehr zu Hause sein würde.
»Ich gehe mal kurz in die Stadt, was einkaufen. Hast du irgendeinen besonderen Wunsch?« Ihre Mutter streckte den Kopf zur Tür herein.
»Nein, danke Mum, ich brauche nichts«, antwortete Sarah knapp und freute sich darauf, für eine Stunde allein zu sein.
»Okay, wie du meinst, dann gehe ich jetzt. Wir sehen uns später.« Ihre Mutter eilte die Treppe hinunter und verließ die Wohnung. Sarah trat auf die Galerie hinaus und lauschte auf die
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