Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
zu suchen, die Licht in die Vergangenheit brachten. Dass sie sich mit diesem Hintergedanken auf den Weg gemacht hatte, bedrückte Sarah. Sie hatte ein verdammt schlechtes Gewissen. Da half es auch nichts, dass sie sich sagte, dass sie das verdammte Recht hatte, über ihre Geschichte Gewissheit zu kriegen. Sie fühlte sich trotzdem wie eine Verräterin, die die kleine glückliche Restfamilie zerstörte.
»Tja, liebe Hörer, unsere Sendezeit ist bald um und bis jetzt hat keiner der Anrufer unsere Frage richtig beantworten können«, meldete sich der Moderator wieder. »Schade, aber vielleicht klappt’s ja beim nächsten Mal. Ein ‚Gstattl’, ja was könnt das wohl sein? Das war nicht einfach heute. Ein ‚Gstattl’ ist eine Tüte oder eine Tasche, in der man zum Beispiel Einkäufe nach Hause tragen kann.«
Sarah hatte genug von den Heimatklängen und schaltete das Radio ab. Das Dröhnen des Motors bekam ihr besser. Ihre Stimmung hellte sich wieder auf.
* * *
Noch in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gab es Journalisten, die argwöhnten, das John Lennon Opfer eines Programms der CIA geworden sein könnte, das unter dem Begriff »Operation Mind Control« zusammengefasst war. Triebfeder für dieses Programm war der Traum der CIA und vieler anderer Geheimdienste, Menschen ohne ihr Wissen zu willfährigen Werkzeugen zu machen, die man beliebig steuern konnte, im Speziellen zu Attentätern. Auf diese Weise hätte man politische Anschläge ausführen lassen können, ohne als Drahtzieher enttarnt zu werden.
Dieser Traum hat eine lange Tradition, angefangen bei den Assassinen, die ihre Mordtaten unter dem Einfluss von Haschisch ausführten.
2006 gab das FBI, das Lennon über lange Jahre hinweg in Abstimmung mit der CIA beobachtet hatte, endlich alle bis dahin noch zurückgehaltenen Akten über Lennon für die Öffentlichkeit frei. Große Teile, die bis dahin geschwärzt waren, konnten endlich gelesen werden und enthielten nur Belangloses, von dem man sich verwundert fragte, warum es so lange zurückgehalten worden war?
Die letzten Vertreter der Verschwörungstheorien gaben daraufhin zu erkennen, dass sie jetzt nicht länger an einen Komplott zur Ermordung von John Lennon glaubten.
Trotzdem bleiben einige Fragen. Warum benutzte der Attentäter Hohlmantelgeschosse? Warum war er in der Lage, so ausgezeichnet zu treffen, obwohl er nie eine Schießausbildung genossen hatte? Warum benutzte ein Lennon-Fan wie Mark Chapman ausgerechnet diese Munition, und wie kam es, dass er so gut mit der Waffe umgehen konnte? In einer Zeit, in der man noch gänzlich ohne Ego-Shooter Spiele auskommen musste?
Selbstverständlich bleibt auch die Frage, was von der Freigabe dieser Akten zu halten ist. Ein Geheimdienst, der ohne Skrupel bereit ist, Freund und Feind zu töten, wenn es im Interesse der Sache angebracht erscheint, sollte nicht in der Lage und willens sein, Akten verschwinden zu lassen oder zu fälschen?
Dass FBI und CIA vor Fälschungen zurückschrecken würden, ist jedenfalls nirgends berichtet. Und dass sie die Mittel dazu hätten, steht außer Frage.
* * *
Als sie mit dem Auto in die kleine verkehrsberuhigte Straße einbog und sich langsam der Wohnung ihrer Mutter näherte, hatte Sarah ein extrem flaues Gefühl im Magen. Sie war sich nicht sicher, wie sie sich verhalten sollte. Früher hatten sie sich immer liebevoll umarmt, wenn sie von einer Reise nach Hause zurückgekommen war. Jetzt wusste sie nicht, was gleich mit ihr geschehen würde. Sie fühlte sich gehemmt und ließ sich Zeit mit dem Aussteigen.
Ihre Mutter erwartete sie am Treppenabsatz und nahm sie ohne Zögern in den Arm. Aber Sarah spürte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihre Mutter wirkte reserviert und strahlte etwas Leidendes aus.
»Geht's dir nicht gut?«, fragte Sarah und spürte, dass ein leichtes Schuldgefühl in ihr hochstieg. »Du siehst blass aus.«
»Ja, ich fühl mich irgendwie nicht besonders. Kopfschmerzen. Es geht mir wirklich nicht gut«, antwortete ihre Mutter mit einer traurig klingenden Stimme und ging in die Küche voraus. Sarah fühlte, wie das Schuldgefühl sich ein Stück weiter in ihren Magen krallte. Obwohl noch kein einziges problematisches Wort gefallen war, vermittelte ihr die Situation dieses verdammte Gefühl von Schuld. Es war einfach zum Kotzen.
»Soll ich dir einen Kaffee kochen?«, fragte ihre Mutter mit schwacher Stimme.
»Nein, mach dir keine Mühe, ich mach das selbst«, antwortete Sarah.
»Aber ich mach
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