Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
starrte auf die Szenerie vor dem Parkhaus. »Du hältst mich auf dem Laufenden, oder? Du findest mich jeden Freitagabend im Café Revolte , zwei Querstraßen weiter.« Damit stieg er aus und verschwand mit schnellen Schritten.
Sarah war ratlos. Sie musste unbedingt irgendwie an ihre Sachen ran. Vielleicht hatte sie irgendetwas Wichtiges in der Garage übersehen, das ihr weiterhelfen konnte. Im Moment war es jedenfalls zu riskant, mit den Bullen zu reden. Es war besser, erst mal abzuwarten.
* * *
War er wirklich der Einzige? Hinter all diesen Fenstern lebten doch Menschen. War er wirklich der einzige unter ihnen, der es nicht mehr ertragen konnte? Sie alle hatten doch Fernseher. Er konnte das gespenstische Flackern der Bilder in den Wohnungen sehen. Sie alle hatten die gleichen Informationen, aber niemand sprach ihn an auf der Straße, niemand schrie vor Verzweiflung auf. War er der einzige, der diese ungeheuere Heuchelei sehen konnte und der sie nicht mehr ertragen wollte? Das musste doch jeder sehen können, der Augen hatte, Ohren hatte?! Oder war es den Leuten einfach egal, wollten sie es einfach nicht sehen, hatten sie resigniert?
Mark saß in der dunklen Küche und sah aus dem Fenster. Er ließ seine Augen über die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser streichen und versuchte sich vorzustellen, was hinter all diesen erleuchteten Fenstern geschah. Wer wohnte dort? Wie fühlten sich diese Menschen? Stunden vergingen. Hinter den meisten Fenstern war es mittlerweile dunkel geworden. Mark machte sich noch einen Kakao und wartete darauf, dass auch die letzten Lichter erloschen, bis auf eins. Hinter einem Fenster schräg gegenüber, einen Stock höher, brannte immer Licht. Wer war dieser rastlose Mensch, der spät nach Hause kam und dann die Nächte durchwachte? Wusste er, was abging? Erkannte er, dass dieses Land voller Heuchler war? Konnte er deshalb nicht mehr schlafen? Oder war es nur ein einsamer Großstadtbewohner, der Angst hatte und nicht im Dunkeln schlafen wollte?
Er musste ein Fanal aufscheinen lassen, er musste seine Wut hinausschreien und ein Zeichen setzen. Nur dann gab es eine Chance, dass die Menschen aufwachten. Wie sehr hatte er Chris vertraut. Er hatte ihn immer als ein Vorbild gesehen, seinen klaren Verstand und seine unbeugsames Gefühl für Gerechtigkeit. Er konnte sich noch erinnern, wie sie Nächte lang geredet hatten, wie er eine Gänsehaut auf seinem Rücken spürte, so sehr konnte er dem zustimmen, was Christian Schneider als seine Vision von Politik und Gesellschaft in jenen Nächten entwarf. Und jetzt hatte Chris alles verraten. Jetzt wirkte er mit an Bestechung und skrupellosen Manövern. Jetzt verhalf er Freunden in Ämter und bereitete ihnen den politischen Weg für ihre persönliche Bereicherung. Was kassierte er selbst wohl für diese Gefälligkeiten? Seine Anzüge waren teuer, seine Schuhe spiegelten seine Eitelkeit wider. Wie hatte das nur geschehen können? Wie konnte Christian Schneider die Korruption der politischen Kaste so unverhohlen feiern? Warum schämte er sich nicht? War es möglich, seine Scham zu verkaufen?
Mark griff nach der Waffe, die seit Stunden neben ihm lag und deren Geruch er die ganze Zeit eingeatmet hatte. Die Härte des Metalls und seine Kälte übertrugen sich auf ihn. Er spürte, wie er immer sicherer wurde. Er spürte, dass er die Entscheidung getroffen hatte. Er war bestimmt, ein Fanal zu setzen, ein Fanal, dass eine Wende bewirken konnte, bewirken musste!
* * *
Die Polizei residierte in einem sehr schönen roten Backsteinbau inmitten einer Allee aus schlanken Birken. Die Morgensonne tauchte die ruhige Straße in einen ganz eigenen Zauber.
Als Sarah das Gebäude betrat, war sie von der Stille überrascht, die sie plötzlich umgab. Sie hatte ein Gefühl wie in einer Kirche. Die Mauern mussten sehr dick sein. In dieser vollkommenen Lautlosigkeit hörten sich ihre eigenen Schritte ungeheuer monströs an, als sie auf die Pförtnerloge zuging, die sich links neben dem Aufgang zur ersten Etage befand.
Sie drückte den Klingelknopf, der unter dem kleinen Fenster der Loge angebracht war und wartete. Nach ein paar Sekunden wurde das Fenster von einem kauenden Polizeibeamten geöffnet. Sarah setzte an, ihr Anliegen vorzubringen, aber der Beamte hörte ihr nicht zu.
»Erste Türe links!«, kommandierte er und machte ihr mit einer Geste klar, dass sie um die Ecke gehen sollte.
Sarah folgte seiner Aufforderung und trat nach einem flüchtigen Klopfen
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