Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
tippte die Nummer in ihr Mobiltelefon. Nach zweimal Klingeln meldet sich ein Mann mit einer übertrieben geschäftstüchtig klingenden Stimme. Für jemanden, der eine Wohnung vermieten wollte, stellte er geradezu unverschämt aufdringliche Fragen.
»Warum wollen Sie dort einziehen?«, fragte er. Sarah war perplex, so etwas gefragt zu werden. Sie fühlte sich wie bei einem Verhör und weigerte sich, Auskunft zu geben. »Sagen Sie mir zuerst, warum Sie in so ein Zimmer einziehen wollen! Erst dann macht es für mich Sinn, weiterzureden«, setzte die Stimme noch eins drauf.
»Ich brauche für ein bis zwei Monate eine preisgünstige Übergangswohngelegenheit. Danach will ich in eine eigene Wohnung ziehen«, antwortete Sarah gereizt und nicht gerade diplomatisch.
»Okay, Sie kommen infrage«, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung eine Nuance freundlicher.
»Wann kann ich denn das Zimmer ansehen?«
»Moment, ich habe noch ein paar Fragen. Wo arbeiten Sie?«
Sarah wusste nicht so recht, was sie auf die Schnelle antworten sollte, und fantasierte einfach drauf los.
»Ich bin selbstständige Unternehmerin. Ich bin gerade dabei, in Berlin ein Geschäft zu eröffnen, einen Gastronomiebetrieb.« Sarah hatte das Gefühl, dass sie nicht gerade überzeugend wirkte, aber seltsamer Weise akzeptierte der Mann ihre Angaben.
»Okay, wir treffen uns heute Abend um 20:30 Uhr am Objekt. Warten Sie vor dem Haus auf mich!« Damit legte er auf.
Als Sarah um 20:20 Uhr vor dem Plattenbau eintraf, wartete dort bereits ein kleines Grüppchen von Interessenten. Eine Mutter mit ihrem Sohn, ein Mann mit einem dunklen Lederkoffer, ein Japaner und eine junge Frau, die etwas zu overdressed war für diese Umgebung. Sie wirkte vor dem Plattenbau wie ein Theater-Gemeinde-Mitglied in einer surrealistischen Open-Air-Inszenierung mit Zuschauerbeteiligung. Die Mutter war gesprächig und sorgte dafür, dass im Handumdrehen alle miteinander bekannt waren. Und noch bevor eine Viertelstunde um war, wusste Sarah bereits, dass sie es satt hatte, dass ihr Sohn mit dreiunddreißig immer noch bei ihr zu Hause wohnte und dass er sich durch den Umzug in ein eigenes Zimmer endlich von zu Hause abnabeln sollte. Außerdem wusste sie aus eigener Anschauung, dass der dunkle Koffer voll Meißener Porzellan war und dass sein Besitzer ein Reisender in Sachen Geschirr war, der von Haus zu Haus zog, um im An-der-Tür-Geschäft Bestellverträge für Haushaltsgeschirr abzuschließen. Seine ganze Art, sich zu geben, hatte er auf seine wahrscheinliche Zielgruppe abgestellt, ältere Damen, die nach Zuwendung dürsteten. Auch Sarah gegenüber gab er sich übertrieben charmant. Das war seine Masche, die er auch außerhalb seines Jobs nicht mehr ablegen konnte.
Der Japaner zog als Porträtmaler durch die Welt und wollte alle Hauptstädte Europas kennen lernen. Die letzten Jahre hatte er in Granada verbracht und dort im Zigeunerviertel gelebt. Jetzt hatte er gehört, dass Berlin die hippste Stadt der Welt geworden sei. Und davon wollte er sich jetzt persönlich überzeugen. Die overdressed wirkende junge Frau war Polin. Sie sprach nur gebrochen Deutsch und sagte, dass sie für eine russische Airline arbeite. Die Art, wie sie sich schminkte, legte den Verdacht nahe, dass sie in ganz anderen Geschäften unterwegs war.
Als der Vertreter der Wohnungsgesellschaft eintraf, begrüßte er alle Wartenden per Handschlag und meinte dann in dem gleichen Kommandoton, den Sarah schon vom Telefon her kannte: »Es gibt nicht viel zu sagen. Ich zeige ihnen am besten das Objekt und Sie entscheiden sich dann.« Damit holte er einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss die Tür auf.
Das Grüppchen der Interessenten folgte ihm in das Hochhaus. Auf dem Treppenabsatz im Erdgeschoß drehte er sich kurz nach ihnen um, deutete mit einer knappen Geste auf eine verkratzte, dunkelbraune Lifttür mit einem schmalen Panzerglasfenster in der Mitte und bemerkte lakonisch: »Wir haben auch einen Lift. Dieser Lift geht auch. Sie können das gerne ausprobieren und mit dem Lift nach oben fahren. Ich bevorzuge die Treppe.« Damit drehte er sich um und ging weiter. Keiner der Interessenten nahm die Einladung zur Liftfahrt an. Alle folgten ihm wortlos die Treppe hinauf.
Das Treppenhaus war extrem düster und roch vermodert, wie es in diesen Plattenbauten üblich war. Es gab ein Müllschluckersystem, das penetrant stank, wie alle Müllschluckersysteme auf diesem Planeten. Sarah jedenfalls konnte sich
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