Spinnefeind
Schultern. »So läuft es immer bei Sexualverbrechen. Die Opfer sind schuld. Beim ersten Mal verdrängte ich alles und empfand nur Empörung, weil Kaminsky permanent leugnete, dass es in Deutschland Diskriminierung gibt. Sie müssen sich vorstellen, ich war 14, aber ich hatte ziemlich viel vom Leben mitgekriegt. Oft hatte ich nachts wachgelegen und gelauscht, wie meine Mutter meinem Vater vorjammerte, dass sie in einem Geschäft absichtlich übersehen wurde, dass sie angerempelt wurde, dass sie bei Behörden behandelt wurde wie Dreck. Meine Mutter hat im Senegal Englisch und Deutsch studiert. Sie spricht perfekt Deutsch, man hört nur einen winzigen Akzent. Aber dennoch radebrechten die Heinis auf den Ämtern mit ihr, als wäre sie debil.« Rita trank ihr Glas zur Hälfte leer. »Nachdem Kaminsky mich zum dritten Mal angefasst hatte, sagte ich meinen Eltern alles. Wir mussten zur Polizei. Das war fast noch schlimmer als Kaminskys Fummelei. Ich war an dem Tag, als ich aussagen musste, ziemlich aggressiv. Die Wut schützte mich. Jeder Psychologiestudent im ersten Semester kann das erklären. Aber ich hinterließ nicht den Eindruck des armseligen Opfers. Kaminsky wurde freigesprochen.«
»Dass ein Opfer vor Entsetzen wie gelähmt sein kann, müsste doch auch den Gutachtern klar gewesen sein«, unterbrach Katinka.
»Keine Beweise, kein Urteil. Es gab nur meine Aussage. Er hatte nur den Finger in mich reingeschoben, da konnte auch die Ärztin nicht viel sehen. Das Jungfernhäutchen war intakt. Man unterstellte, ich hätte mir alles nur ausgedacht, um mich an Kaminsky zu rächen, den ich ohnehin nicht mochte, wie jeder an der Schule wusste. Immer wieder wurde ich gefragt, warum ich mich nicht gewehrt hätte. Man wollte ein paar richtige Verletzungen sehen. Da war aber nichts. Nichts Sichtbares. Keine Quetschungen, Hämatome oder Abschürfungen.«
Katinka wusste zu genau, dass bei Prozessen dieser Art alles von brauchbaren Zeugenaussagen abhing. Und davon, wie glaubwürdig das Opfer war. Katinka probierte von ihrem Getränk.
»Tonic Water mit Zitrone«, sagte Rita. »Die Eltern der Kinder an meiner Schule kriegten Angst, und schließlich wollte der Direktor Kaminsky loswerden.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Und wer ist der verschwundene Schüler?«, fragte Rita schließlich.
Katinka berichtete kurz von Hannes, ohne weitere Einzelheiten zu nennen. Kein Wort von Falk, Kazulé, Ljubov und dem russischen Boxklub. Nur der dürre Hinweis, dass Hannes Kaminskys Akte in die Finger bekommen haben könnte.
»Sie glauben, dieser Junge hat etwas über Kaminsky herausgefunden?«
»Genau das nehme ich an«, sagte Katinka. »Kaminsky hat Chancen, Minister zu werden. Aber nur, wenn diese alte Geschichte unter dem Deckel bleibt.«
»Pah!«, rief Rita und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Denkste. Sobald in der Zeitung ein Wort darüber steht, dass Eugen Kaminsky Kultusminister wird, rufe ich sämtliche Nachrichtenagenturen an und gebe der Bild-Zeitung ein Interview.«
Katinka betrachtete Rita nachdenklich. Da bohrte sich ein Haken in ihre Gedanken.
»Kaminsky scheint zu ziemlich viel Einsatz bereit, um diesen Posten zu bekommen«, sagte sie. »In Bamberg ist ein Mord passiert. Es besteht ein begründeter Anfangsverdacht gegen Kaminsky.«
Das stimmte nicht ganz. Aber mehr wollte Katinka nicht sagen. Rita verzog die Lippen.
»Sieh einer guck«, sagte sie. »Sie meinen, ich sollte vorsichtig sein, dass Kaminsky mich nicht mundtot macht, wenn er an der Schwelle zur Macht steht?«
»Es ist zumindest denkbar«, murmelte Katinka. Ich sehe Gespenster, dachte sie. Ljubov und ihr blödsinniges Gequatsche haben mich völlig durcheinandergebracht. Ihr Handy meldete eine SMS.
»Entschuldigung«, sagte sie und holte das Telefon aus dem Rucksack.
›Ich bin spätestens um elf zu Hause. Komm. H.‹
Katinka checkte die Uhr. Halb elf. Rita warf den Kopf zurück.
»Das werden wir sehen. Kaminsky ist ja wohl nicht allmächtig.«
Katinka musste blitzschnell entscheiden, ob sie Rita einweihen sollte in sämtliche Widernisse, Gewalttaten und Geheimnistuereien.
»Sagt Ihnen Cavalieri was?«
»Was ist das? Ein Karnevalsverein?«
»Nein. Ein Männerorden. Eine Art Geheimbund. Katholisch.«
»Nie gehört.«
»Kaminsky ist Mitglied. Und der Richter, der ihn damals freigesprochen hat, auch. Nehme ich zumindest an.«
»Hans-Peter Kazulé? Sie meinen, in diesem Orden hat sich eine Art Nebengesellschaft aufgebaut? Leute, die in Hinterzimmern
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