Spinnefeind
hat? Hannes’ Aufenthaltsort und«, sie senkte die Stimme, »das große Geheimnis?«
Valente nickte düster. Katinka ahnte, was in ihm vorging. Nun war er der Letzte des Trios, der keine Ahnung hatte. Vereinsamt blieb er in Bamberg zurück, quälte sich durch die letzten Schultage und wurde von seinem Vater getriezt.
»Wie kann sie das herausgefunden haben?«
Valente zuckte die Achseln. Es war nach drei. Der Dunst stand wie Herbstnebel zwischen den Häuserwänden und machte das Atmen schwer.
»Ich muss los«, sagte Katinka. »Wir bleiben in Verbindung.«
Sie ging die paar Schritte zur Universitätsbibliothek. Seit Kurzem besaß sie wieder einen Benutzerausweis und ließ sich ab und zu im ersten Stock nieder, um Zeitung zu lesen. Auf diese Weise konnte sie sich über die Debatten der Welt informieren, ohne ein eigenes Abo zu bezahlen. Außerdem stellte sie fest, dass es ihr oft leichter fiel, sich zu konzentrieren, wenn um sie her die geschäftige Flüsteratmosphäre einer Unibibliothek herrschte. Da waren Studenten, die hektisch nach Literatur für ihre Referate suchten, Doktoranden mit ausgelaugten Gesichtern, deren Gesichtshaut vom vielen Studieren so trocken wie Buchseiten wurde, und ab und zu ein Professor, der seine Buchbestellung persönlich abholte, anstatt eine Hilfskraft zu schicken.
Sie schloss ihren Rucksack im Schließfach ein und ging mit Stift und Block die Treppe hinauf, suchte sich ein stilles Plätzchen und sah ihre Notizen durch. Sie brauchte einen roten Faden, irgendeinen Gedanken, wo sie den Hebel ansetzen konnte, um den Fall in seine Bestandteile zu zerlegen. Da waren zwei Morde, an Doris Wanjeck und an Jens Falk. Dann Ljubov, der russische Boxklub und die drei Fieslinge. Schließlich die Schüler, von denen zwei verschwunden waren, und die Chiffren. Ein Geheimbund aus der Renaissance. Zwei Namen. Kaminsky und Kazulé. Ein aussichtsreicher Posten im Kultusministerium. Rita Bregovi ć . Ein Sexualdelikt.
Sie kringelte das letzte Wort ein. Sie hasste das Wort Delikt . Es klang nach Bürokratie und sagte nichts aus über Demütigung und Angst. Aber es war ein gutes Wort für Zusammenfassungen. Rita Bregovi ć anrufen, notierte Katinka. Jemand setzte sich neben sie an ein Computerterminal. Eine Studentin mit Kopftuch rief das Internet auf und begann, arabischsprachige Seiten durchzusehen. Seltsam, dachte Katinka, was diese Welt aus uns macht. Noch vor ein paar Jahren hätte ich geschworen, dass es keinen Unterschied macht, ob jemand einen arabischen Text liest oder einen italienischen. Nur mit Mühe konnte sie zu ihren eigenen Fragen zurückkehren. Wie hingen all diese Fäden zusammen? Wie sah die Puppe aus, an der sie befestigt waren? Wie konnte sie das herausfinden? Katinka unterdrückte ein Gähnen. Die letzte Nacht hatte sie geschlaucht. Die Studentin mit dem Kopftuch lächelte ihr zu. Katinka schickte das Lächeln zurück. Die denkt, ich brüte über einer Hausarbeit, dachte sie. Und so ähnlich ist dieser Fall. Wie die Seminararbeiten, in denen man sich verfranst, weil man so viel Literatur gelesen hat, dass man die eigenen Gedanken nicht mehr kennt.
Eigene Gedanken. Sie räusperte sich, als müsse sie einen Vortrag halten, und legte los. Schrieb auf, was ihr in den Sinn kam. Wie ein Referat, das einer Gruppe gelangweilter Studenten Einblick in ein abseitiges historisches Thema geben sollte. Sie füllte Seite um Seite. Malte Verbindungslinien quer über die Blätter, strich ganze Sätze aus und malte zwischen die Zeilen. Irgendwann besah sie sich ihr Werk. Viel Steine gab’s und wenig Brot, dachte sie und sah auf. Die Kopftuchträgerin war weg. Draußen quälte sich die Sonne durch den dunstigen Himmel. Sie packte ihre Sachen zusammen und ging die Treppe langsam hinunter. Rita Bregovi ć wäre ihre nächste Gesprächspartnerin. Und dann Ljubov. Immer wieder Ljubov.
Katinka ging an der Ausleihtheke vorbei.
»Frau Palfy! Also haben Sie den Weg zurück doch noch gefunden.«
Hauke von Recken baute sich in der Pose des antiken Helden vor ihr auf.
»Grüß Gott«, sagte Katinka überrumpelt. »Was machen Sie denn hier?«
»Ich brauche einen Arabisch-Sprachführer für unseren Libyen-Aufenthalt.« Er hielt einen Stapel Bücher hoch. »Kann ich denn mit Ihnen rechnen? Es geht bald los, und ich finde wirklich, dass Sie so eine Chance nicht aus der Hand geben können.«
Katinka verdrehte die Augen und gab sich nicht einmal Mühe, ihr Unbehagen zu verbergen.
»Das ist nichts mehr
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