Spinnen füttern
erschöpft, aber er kämpfte dagegen an, sich hinzulegen. Es wäre ein Eingeständnis seines pathologischen Zustands gewesen. Er saß auf dem Stuhl und spürte plötzlich, wie durstig er war. Er schlug mit der Faust an die Tür, sofort erschien die Krankenschwester und sagte: Machen Sie doch nicht so einen Lärm.
Ich brauche Wasser, ich habe Durst.
Sie brachte ihm einen Pappbecher, er stand in der Zelle und trank. Als er fertig war, nahm die Krankenschwester den Becher und ging.
In der Zelle kamen eine Menge Erinnerungen auf. Otto sprach mit Aisha, fragte sie, ob sie ein größeres Kissen brauche, ob sie etwas höher liegen wolle. Soll ich die Krankenschwester holen?, fragte er. Du musst Geduld haben, der Arzt ist gleich da. Er versprach ihr, beim nächsten Mal Haschisch mitzubringen, gegen die Übelkeit. Dann wollte er nur noch weinen, bis ihm einfiel, dass auch dies als Hinweis auf eine Geisteskrankheit gewertet werden könnte.
Alles hatten sie ihm genommen, doch was er am meisten verabscheute und fürchtete, war das Stahlbett. Er sehnte sich nach Alkohol, nach Gesellschaft, nach einem Buch. Am meisten sehnte er sich nach Aisha. Das Bild, das er vor Augen hatte, zeigte sie auf ihrer Lieblingsliege, die Sonne wärmte ihren Rücken, ihre Beine waren nackt. Wenn sie umblätterte, sah sie immer kurz zu ihm herüber, strahlend vor Verliebtheit oder ernst und kritisch: weil er sang, weil er in der Küche Krach machte, weil er über Jazz und Politik monologisierte, weil er schon am Morgen schimpfte. Ihre Beziehung zum Wort, zum Geschriebenen war intensiv – und hatte doch etwas sehr Kindliches.
Er dachte über Aishas Geschichte nach, über ihre Kindheit in einer Zeit, als die Weißen in die Vororte flohen, aus Angst, dass ihre Häuser und Wohnungen an Wert verlieren würden, wenn schwarze Familien in ihre Viertel zögen. Nur Mrs Rooney, eine pensionierte Bibliothekarin und passionierte Leserin, wollte nicht umziehen. Ihr Herz sei groß genug für alle, erzählte sie gern, deshalb hatte sie sich gegen den Umzug entschieden. Hier werde ich sterben, sagte sie, hier, wo die Menschen gut zu mir waren. Menschen aller Rassen. Ich verstehe nicht, warum jetzt alle plötzlich wegwollen. Als sie älter wurde, ließ ihr Augenlicht nach, und sie war ganz auf die Hilfe ihrer Nachbarn angewiesen.
Eines Tages saß Aisha im Treppenhaus, sie übte einen Vortrag, den sie für die Schule geschrieben hatte. Mrs Rooney lud sie in ihre Wohnung ein. Setz dich, Kind, sagte sie, was hältst du davon, wenn du mir etwas vorliest? Du machst das so schön. Von da an ging Aisha täglich zu Mrs Rooney, las ihr vor und griff beherzt zu, wenn ihr die alte Frau Plätzchen oder Bonbons anbot. Manchmal drückte ihr Mrs Rooney einige Münzen in die Hand, die Aisha in ihren Winterstiefeln versteckte, bis der erste Schnee die Verlagerung in die Sommerschuhe nötig machte. Die Jahreszeiten wechselten einige Male, dann kam der Neffe von Mrs Rooney und brachte sie in ein Pflegeheim. Sie konnte kaum noch sehen, sie hätte sich beinahe in ihrer Wohnung verbrannt, das ganze Haus drohte, in Flammen aufzugehen. An ihrem letzten Abend rief sie Aisha zu sich und sagte: Nimm ein Buch aus dem Regal, egal, welches, ich werde es für dich rezitieren. Aisha wählte ein Buch, und Mrs Rooney begann, es auswendig aufzusagen. Verwundert und traurig saß Aisha da, sie fragte: Warum haben Sie mir das Gefühl gegeben, dass ich gebraucht werde, wenn Sie all diese Bücher ohnehin im Kopf haben?
Mein Kind, sagte die alte Dame, es ging darum, dass du die Welt der Bücher entdeckst, dass du sie lieben und ehren lernst. Sie bat Aisha, näher heranzutreten. All diese Bücher, sagte Mrs Rooney, werde ich der Stadtbücherei vermachen, wirklich jedes einzelne. Dir gebe ich kein einziges. Du hast gelernt zu lesen, jetzt sollst du entdecken, was die Menschen geschrieben haben, denen du entstammst.
Sie reichte Aisha ein Kärtchen mit einer Telefonnummer. Mein liebes Kind, ruf dort an, wenn du einundzwanzig Jahre alt bist, sagte sie, denn natürlich will ich dir etwas hinterlassen.
Als Aisha einundzwanzig wurde, hatte sie das Kärtchen längst verloren, die alte Frau war nur noch eine Kindheitserinnerung für sie. Doch eines Tages rief ein Anwalt an, stellte sich als Nachlassverwalter von Mrs Rooney vor und bat Aisha, in sein Büro zu kommen. Mrs Rooney hatte ihr ein kleines Haus auf dem Land vermacht, mit einem großen Grundstück, und ein bisschen Geld.
In dieses Haus zogen
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