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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rawi Hage
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umarmte mich kurz und ging.
    Manuskript
    Diesmal dauerte es nicht so lange, bis Otto wieder Kontakt aufnahm. Er rief an, früh am Morgen, er wusste, dass ich gerade von meiner Schicht nach Hause gekommen war. Er wollte sich am Nachmittag, wenn ich ausgeschlafen hatte, mit mir treffen.
    Gegen vier stand ich auf, zog mich an und putzte mir die Zähne. Dann verließ ich die Wohnung. Otto war noch einmal stark gealtert, seine Wangen, die einst so prall gewesen waren, dass sie ihm ein verschmitztes, lebensweises Aussehen gegeben hatten, waren schlaff und zerfurcht. Sein Haar war an den Seiten weiß, er schien noch weiter zugenommen zu haben.
    Das sind diese Medikamente, die sie mir im Irrenhaus gegeben haben, erklärte er, man wird davon dick.
    Ich löschte mein Dachschild und fuhr mit Otto ans Ufer. Zwar regnete es nicht mehr, doch der Boden war aufgeweicht, das Wasser hatte den Fußweg erreicht. Ich parkte, ohne die Scheinwerfer auszuschalten, das Licht schimmerte auf dem Wasser, die Wellen blitzten auf wie die Rücken von Delfinen, die nach der feuchten, zwischen den beiden nordamerikanischen Ufern heraufziehenden Seeluft schnappten.
    Otto zog einen Flachmann aus der Manteltasche und reichte ihn mir. Schweigend standen wir da, wir tranken und rauchten und starrten ins Wasser, in den Himmel.
    Sie haben in der Psychiatrie versucht, meinen Geist zu brechen, sagte Otto. Wer nicht mitmacht, wer sich beschwert, wird ruhiggestellt. Die Masse da draußen wird auch ruhiggestellt, dafür sorgen die korrupten, selbstgefälligen Journalisten. Wir aber, die wir die Machtverhältnisse und die Gier der Machthaber durchschauen, wir, die sich gegen ihre Brutalität erheben, wir riskieren, zertrampelt zu werden. Der Kampf ist noch nicht zu Ende, Fly, für mich wird er nie enden. Otto nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
    Unter der Brücke sahen wir ein kleines Boot, am Heck flatterte eine zerfetzte, ausgebleichte Flagge, kaum mehr als ein Lumpen. Ich sah dem Boot nach, folgte mit dem Blick der weißen Spur des geteilten Wassers, bis sie von den Wellen, vom Fluss selbst aufgenommen wurde und sich verlor. Otto stieß mit jedem Wort, das er sagte, Qualm aus.
    Ich finde, man muss ihnen Angst einjagen. Nur so kann man ihnen beibringen, wie die Unterprivilegierten die Welt erfahren. Wir müssen ihnen ein anderes Gesicht zeigen. Sie scheuen nicht mehr die Gesichter der Armen und Entrechteten, sie schämen sich nicht mehr. Deshalb müssen wir ihnen eine Maske zeigen, eine Maske des Schreckens … Wir müssen sie zwingen, an der Klippe von Tod und Hunger zu stehen und hinunterzusehen, sie müssen zittern und heulen … Sie sind überall, Fly.
    Wer ist überall?
    Hör zu, sagte Otto und trat seine Zigarette aus, ich mache mir immer noch meine Notizen, ich habe eine Menge Material zu bestimmten Leuten gesammelt.
    Wozu?
    Es sind nur Notizen, Beobachtungen, Daten. Fly, Alter, ich habe dich angerufen, weil du mir einen Gefallen tun musst. Ich brauche deine Hilfe. Der Psychiater, der für meine Behandlung verantwortlich war, ruft zweimal die Woche, dienstags und donnerstags gegen acht am Abend, ein Taxi, er fährt von seiner Privatklinik nach Hause. Der Mann heißt Dr. Wu. Ich beobachte ihn seit einiger Zeit. Die meiste Zeit verbringt er im Krankenhaus, nur an diesen beiden Abenden ist er immer in seiner Klinik. Ich habe eine Menge Material gesammelt, Fly, über eine Menge Leute. Ich kenne die Tagesabläufe, ich weiß, wo sie essen gehen, kenne ihre Nummernschilder. Das muss alles festgehalten werden, Fly, so funktioniert die Macht, so festigen diese Leute ihre Stellung. Es geht um Information, Fly, Information und Organisation.
    Du parkst einfach vor der Klinik und bringst mir dieses Ungeheuer, sagte Otto. Ich werde ihn nur zwingen, etwas vorzulesen, mehr nicht.
    Fürs Lesen bin ich immer, Otto, das weißt du. Aber man darf die Leute nicht dazu zwingen.
    Man muss sie zwingen, die andere Seite zu sehen, die andere Geschichte zu lesen.
    Sie kennen diese Geschichten doch, sie können sie nur nicht …
    Genau, sagte Otto. Gerade deshalb ist es entscheidend, dass sie uns diese Geschichten, die unsere Geschichten sind, laut vorlesen. Auch wenn es sie nicht interessiert. Wir müssen bei ihnen sein, wenn sie lesen. Ihre Stimmen werden zittern, sie werden ängstlich sein. Das ist unser Zeichen, nur so können wir den Kampf wieder aufnehmen. Fly, wir kennen uns jetzt ziemlich lange. Ich weiß, dass du mir helfen wirst.
    Und was würde Aisha dazu

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