Spinnen füttern
Du musst zum Arzt gehen …
Nebel
Am nächsten Tag lag ich im Nebel der Ermattung, mein ganzes Denken kreiste um den Mord, ich fragte mich, wo Otto abgeblieben war.
Um mich abzulenken, überlegte ich, ob es sinnvoll wäre, die Geschichtsabteilung nach dem Buchstaben S zu sortieren, was dem Erotischen einen Vorteil vor dem Monumentalen verschaffen würde. Aber da hörte ich die Rumänin und den Arzt, deren Bett zur Melodie der Blauen Donau quietschte, ich stand sofort auf und wirbelte im Walzertakt hinüber. Ich klopfte lange an die Tür, bis endlich die Rumänin durch einen Spalt lugte.
Was wollen Sie?, brüllte die Frau.
Also, ich weiß, dass der Doktor hier ist, ich habe unten seinen Wagen gesehen, ich wollte mal fragen, ob er mir vielleicht eine außerordentliche Sprechstunde gewährt.
Wer ist das?, rief der Doktor, der gerade die Musik leiser stellte.
Ich bin’s, Doktor, der Nachbar mit den Geschenken.
Warten Sie draußen, rief er, ich bin gleich da.
Ich blieb im Flur stehen. Er war noch mit seiner Hose beschäftigt, als er heraustrat.
Doktor, sagte ich, ich hoffe, das Päckchen, dass ich Ihnen und Ihrer Freundin kürzlich dagelassen habe, hat Ihnen Freude gemacht.
Er nickte, zu einem Wort des Dankes ließ er sich nicht hinreißen.
Nun, ich würde Sie gern um einen kleinen Gefallen bitten. Ich habe in letzter Zeit ein paarmal, sagen wir, phantastische Gedanken gehabt.
Was für Gedanken?
Harmlose Gedanken, sie haben mit Bühnen zu tun, mit Seilen und Clowns, auch mit Tieren.
Sind es sexuelle Phantasien?
Nein. Es ist eher so, als kämen sie aus meinem Gedächtnis. Wie auch immer, ich habe gedacht, dass es vielleicht gut wäre, einen Arzt zu sprechen, der sich mit solchen Kopfsachen auskennt, einer wurde mir auch schon empfohlen. Ich möchte Sie bitten, mir eine Überweisung zu schreiben, der Arzt heißt Doktor Wu.
Na klar, na klar, sagte er, da müssten Sie aber in meine Praxis kommen.
Ja, es tut mir auch leid, dass ich Sie gestört habe, ich dachte nur, weil Sie gerade hier sind und so …
Machen Sie sich keine Gedanken. Kommen Sie am Morgen in die Sprechstunde. Dr. Wu, sagten Sie? Erinnern Sie mich morgen noch einmal daran, ich mache das. Sie brauchen überhaupt nicht zu warten.
Super.
Oh, übrigens, falls Sie von dem Mittel noch etwas haben, dann können Sie es gern mitbringen.
Ich werde mein Bestes tun, sagte ich und ging.
Als ich die Überweisung hatte, ging ich gleich zu dem Psychiater, den ich unter die Brücke zu Otto gefahren hatte. Das war natürlich sehr riskant, aber ich musste einfach herausfinden, ob er mich wiedererkennen würde. Ich hatte mich schick gemacht, trug eine Krawatte und sogar Parfüm.
Am Empfang fragte ich, ob es möglich sei, den Doktor zu sprechen. Die Arzthelferin war sehr zuvorkommend, sie fragte, ob ich versichert sei. Ich verneinte mit einem Lächeln, ich bräuchte nur diesen einen, kurzen Termin vor meiner Abreise, ich würde das gern so bezahlen. Ich musste mich ins Wartezimmer setzen und ein Formular ausfüllen, unter falschem Namen beantwortete ich eine Checkliste physischer und psychischer Beschwerden. Aus einer Laune heraus legte ich mir eine chronische Blasenentzündung zu, außerdem sah ich doppelt.
Was kann ich für Sie tun?, fragte der Doktor, als ich endlich vorgelassen wurde.
Nun, Doktor, ich schlafe sehr schlecht und fühle mich ausgesprochen melancholisch. Es gibt Tage, an denen mich die Traurigkeit ans Bett fesselt. Ich bin ständig müde und denke nicht selten an Selbstmord. Das Einzige, was mir vorübergehend hilft, ist die fast ununterbrochene Masturbation.
Er sah mich ausdruckslos an. Was machen Sie denn beruflich, Mister …?
Gar nichts, ich orientiere mich gerade neu.
Und was haben Sie bisher gemacht?
Ich war im Transportwesen beschäftigt.
Mussten Sie da körperlich arbeiten?
Nein, ich habe die ganze Zeit gesessen.
So, so. Ich verordne eine Grunduntersuchung, wir werden Ihren Blutdruck messen und so weiter. Dann schlage ich vor, dass wir ein vollständiges Blutbild machen und eine psychologische Beurteilung. Ich kann Ihnen gern Tabletten verschreiben, die Ihren Drang dämmen. Sehen Sie manchmal verzerrt? Haben Sie delirische Episoden?
Was für Episoden?
Hören Sie zum Beispiel Stimmen?
Wessen Stimmen?
Zum Beispiel die Stimme Gottes?
Nein, höre ich nicht, aber alle anderen offenbar schon.
Der Doktor runzelte die Stirn und sah mich über seine Brille hinweg an.
Ich bin kein gläubiger Mensch, Doktor.
Das habe ich
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