Spinnen füttern
um die Schulter. Was machst du denn hier, Fly?, fragte sie. Komm, lass uns reingehen. Es kam mir vor wie eine Theaterprobe, ganz ohne Applaus.
Gemeinsam gingen wir nach Hause. Ihr Arm lag warm an meinem Hals, ihr Duft, gelöst vom Regenwasser, trieb mir Tränen in die Augen. Als wir vor der Haustür standen, sagte ich: Wir sind fähig, einander wehzutun.
Komm rauf, sagte Zainab. Komm, Fly, hier kannst du nicht stehen bleiben.
In meinen Schuhen war so viel Wasser, ich wäre am liebsten von Pfütze zu Pfütze gehüpft wie ein Kind.
Wo sind deine Schlüssel, Fly?, fragte Zainab. Die Schlüssel …, fragte sie noch einmal, sie musste mich beinahe anschreien.
Ich angelte sie aus der Tasche und schloss auf. Zainab folgte mir in die Wohnung, um mir beim Ausziehen zu helfen. Sie holte ein Handtuch aus dem Bad, rubbelte meine Haare trocken und band es mir um den Kopf. So brachte sie mich ins Bett. Ich war erschöpft und völlig kraftlos, die Zimmerdecke, die Bücherregale, alles begann, sich immer schneller zu drehen, unfassbar schnell, dann verlor ich das Bewusstsein.
Salz
Am nächsten Morgen klopfte Zainab und erkundigte sich, wie es mir ging. Da sie mich nun einmal in der Bibliothek gesehen hatte, in der ich wohnte, war sie neugierig geworden.
Ich kochte Tee, sie war ganz überwältigt von meiner Büchersammlung. Ich hoffte nur, dass die Mäuse nicht auf die Idee kämen, zwischen ihren Füßen zu lustwandeln, bestimmt würde Zainab dann gleich wieder gehen.
Fly, du solltest wirklich mal zum Arzt gehen, sagte Zainab. Ich meine einen Arzt, mit dem du reden kannst. Du warst gestern Abend nicht ganz Herr deiner Sinne, wenn du weißt, was ich meine. Du hast gedacht, ich wäre jemand anders. Beziehungsweise viele andere. Du hattest das, was man, glaube ich, eine Episode nennt …
Worauf sie plötzlich das Thema wechselte und mich nach den Büchern fragte. Ich erklärte ihr, dass mein Klassifikationssystem mit dem an ihrer Arbeitsstelle nur sehr wenig zu tun hatte. Mein System war persönlicher, ein impressionistisches Kontinuum mit sanften Übergängen.
Sehr ungewöhnlich, Fly, sagte sie lächelnd, erzähl weiter.
Na also, rief ich freudig, jetzt habe ich dich endlich neugierig gemacht. Wer hätte das gedacht?
Neugierig bin ich immer gewesen, Fly, aber nicht mehr …
Ach, diese Feinheiten … natürlich sind es genau die Feinheiten, die einen großen Geist verraten … also, begann ich, zum Beispiel die Belletristik. Ich habe sie nach meinem subjektiven Empfinden sortiert, nach dem Gesamteindruck und den handelnden Figuren. Tote Protagonisten haben Vorrang vor triumphierenden Happy-End-Figuren, sie stehen aber hinter Büchern, deren Ausgang offenbleibt und die keine großen moralischen Schlussfolgerungen nahelegen. Bücher mit offenem Ende haben für mich einen höheren Rang, sie stehen deshalb vor den Büchern mit den Happy Endings, die ich oft als religiös bezeichne, als »Auferstehungsenden«. Das ist der Grund, warum sie bei mir praktischerweise in den untersten Regalen stehen und da drüben, gegenüber von der Badezimmertür … Die historischen Romane sind nach dem Sieger der ersten Schlacht, die in dem Buch vorkommt, sortiert. Krieg und Frieden zum Beispiel steht unter N, N bezieht sich natürlich auf Napoleon. Leider steht fast die gesamte Kriegsliteratur unter H, wie Hannibal, der Feldherr aus Karthago, und andere übergeschnappte Elefantentreiber und Postkartenmaler.
Zainab hörte mir immer noch zu, also begann ich nun, die geheimnisvollsten Schichten meines Klassifikationssystems offenzulegen, und zwar in Bezug auf die Ordnung der Krimis. Letztendlich ist jedes dieser Bücher insofern ein ahnungsloses Opfer, als ich sie nach meinem ersten Versuch sortiere, den Mörder zu erraten. Da ich jedes Mal den Butler Winston in Verdacht habe, wäre es sinnvoller, die Abteilung W an den Anfang des Regals zu setzen …
Doch sprechen wir über ernsthaftere Dinge. Liebste Zainab, ich muss dir beichten, dass die besten Lagen für misanthropische Autoren reserviert sind … zum Beispiel für den Roman- und Theaterautor Bernhard, das österreichische enfant terrible , er teilt sich mit anderen Radikalen, Revolutionären, Moralisten, Orgiasten und Freiheitsfanatikern ein vergoldetes Regalbrett … Schriftsteller dieser Art verdienen nämlich unseren allergrößten Respekt, gerade weil sie im Leben oft durch Nichtachtung und Verachtung gedemütigt wurden. Um nur ein Beispiel zu nennen, vielleicht kannst du
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